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Dramen

Titel: Dramen
Autoren: Frank Wedekind
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Todesangst!
    Melchior
    Herrgott…
    Moritz
    Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren Schaden. – Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja, ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen waren ein Gethsemane für mich.
    Melchior
    Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich schämte mich ein wenig. – Das war aber auch alles.
    Moritz
    Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich!
    Melchior
    Darüber, Moritz, würd' ich mir keine Gedanken machen. All meinen Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee.
    Moritz
    Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen!
    Melchior
    Er hat ihn gefragt.
    Moritz
    Er hat ihn gefragt? – Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen.
    Melchior
    Du hast mich doch auch gefragt.
    Moritz
    Weiß Gott ja! – Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein Testament gemacht. – Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregung verspürt zu haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht, wie, und soll mich dafür verantworten, daß ich nicht weggeblieben bin. – Hast du nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und Weise wir eigentlich in diesen Strudel hineingeraten?
    Melchior
    Du weißt das also noch nicht, Moritz?
    Moritz
    Wie sollt' ich es wissen? – Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will. Aber genügt denn das? – Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die dekolletierte Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann ich heute kaum mehr mit irgendeinem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuungswürdiges dabei zu denken, und – ich schwöre dir, Melchior – ich weiß nicht was.
    Melchior
    Ich sage dir alles. – Ich habe es teils aus Büchern, teils aus Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirst überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante erfahren.
    Moritz
    Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte – nichts als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses Schamgefühl! – Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.
    Melchior
    Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen?
    Moritz
    Nein! – – Sag mir lieber heute noch nichts, Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz – ich würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.
    Melchior
    Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und zwei Aufsätze. Ich korrigiere dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine Limonade, und wir plaudern gemütlich über die Fortpflanzung.
    Moritz
    Ich kann nicht. – Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was du weißt. Schreib es möglichst kurz und klar und steck es mir morgen während der Turnstunde zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu wissen, daß ich es habe. Ich werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich werde nicht umhinkönnen, es müden Auges zu durchfliegen… falls es unumgänglich notwendig ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen anbringen.
    Melchior
    Du bist wie ein Mädchen. – übrigens wie du willst! Es ist mir das eine ganz interessante Arbeit. – – Eine Frage, Moritz.
    Moritz
    Hm?
    Melchior
    Hast du schon einmal ein Mädchen
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