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Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt

Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt

Titel: Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt
Autoren: André Ziegenmeyer
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ein loses Stück Schnur, entfaltete sich und verging. Daraufhin entstand ein zweiter. Ein uraltes Bewusstsein erwachte. Jahrhunderte lang hatte es nichts als vage Traumgebilde gekannt, von denen die meisten um anderer Leute Schmerzen kreisten. Doch nun kehrte es zurück. Etwas hatte sich verändert.
    Verschlafen schüttelte das Bewusstsein seine Synapsen aus und gähnte. In einem jähen Anfall von Erkenntnis stolperte es über sich selbst. Und verzog hämisch die Mundwinkel. Es musterte sich in stiller Bewunderung, dann sprang aus seinen Gedanken eine weißglühende Stichflamme auf. Mit großem Wohlbehagen sonnte sich das Wesen im inspirierenden Licht der Bosheit.

Der nächste Morgen fand Auguste Fledermeyer noch immer ein wenig zerschlagen. Wie lange sie letztlich geschlafen hatte, wusste sie nicht. Aber zumindest hatte sie einiges über den Komfort von Rastbänken gelernt. Als das zunehmende Licht sie weckte, zögerte sie noch lange Zeit, die Augenlider zu heben. Der Tau hatte sich tief in ihre Kleider gesogen, und alles in allem fühlte sie sich genauso nass und genauso glücklich wie ein ausgewrungener Waschlappen.
    Die Hexe hörte singende Vögel in den Bäumen ringsumher, dazu rauschende Blätter. Hin und wieder knackte etwas im Unterholz. Sie versuchte, nicht zu denken. Eine schöne, ungebrochene Stille mit einem Minimum an Bewusstsein schien ihr derzeit das Beste zu sein. Doch leider hielten sich ihre Gedanken nicht daran.
    Als man sie aufgriff, war sie unterwegs zu einem Barbier. Er lebte in der nächstgrößten Stadt, war ein guter Kerl, und sie hatte ein Geschenk für ihn – einen Gegenstand, um den er sie vor langer Zeit gebeten hatte. Denn dieser kleine Mann, Porphorius Turtel genannt, hatte ein ausgeprägtes Interesse an der Weiblichkeit und damit seine liebe Not. Das ging vielen Männern so. Doch in einer niederträchtigen Stunde hatte das Schicksal jenen, der sich beständig um die Schönheit anderer Menschen sorgte, selbst mit einem weit weniger einnehmenden Äußeren geschlagen.
    Seit längerem schon war Porphorius in eine Jungfer vernarrt, die zum Hof des Grafen Sigismund von Käferstein gehörte. Bei diesem handelte es sich um einen wohlhabenden Landadligen, der offiziell Herr des gesamten Bärensteins war – und dies in amouröser Hinsicht auch sehr persönlich nahm. Der Barbier jedenfalls konnte benannter Jungfer nicht recht habhaft werden. Erstens machte Graf Sigismund selbst gewisse Ansprüche geltend, und zweitens schob die wonnigliche Maid stets dringende Aufgaben vor, sobald sie Porphorius erblickte. Der Arme war darüber außerordentlich betrübt. Am Ende wandte er sich daher an Auguste, und das Ergebnis war ein kleines Spiegelchen.
    Es war von ausgesprochener Schlichtheit und fügte sich nahtlos in das Repertoire eines Barbiers. Doch Porphorius Turtel hätte kaum eine Hexe fragen müssen, wenn der Spiegel nicht eine kleine Eigenheit besessen hätte: Er war nicht dazu auserkoren, selbst benutzt zu werden. Stattdessen musste ihn ein anderer präsentieren. Und wer hineinblickte, erkannte darin keineswegs sich selbst, sondern das Abbild desjenigen, der demütig den Spiegel hielt – und zwar so, wie es sich in seinem tiefsten Inneren verbarg. Ebenso tief drang dieser Blick dann in die Seele des Betrachters und hatte dort Gelegenheit, ein paar Dinge zu korrigieren.
    Auguste konnte sich nicht verhehlen, bei der Abbildung des Seelenlebens ein wenig beschönigend eingegriffen zu haben. Doch Porphorius war ein guter Kerl – und sie hätte den Spiegel niemals angefertigt, wenn er für wirklich schurkische Gemüter nicht wertlos wäre.
    Letztlich hatte sie allerdings keine Möglichkeit mehr, dem Barbier das Spielzeug zu geben. An einem lauen Junitag machte sie sich auf den Weg. Doch als sie seine knarrende Haustür öffnete, lächelte er ihr bereits traurig aus schweren Ketten entgegen. Und kurz darauf hatte sie, umringt von gräflichen Wachen und Schergen des Inquisitors, sein Schicksal geteilt. Es nagte ein wenig an Augustes Stolz, dass es diesmal so einfach gewesen war.
    Die meisten Leute neigten zu ausgesprochen imposanten Vorstellungen, was die Zauberkünste von Hexen betraf. Man traute ihnen praktisch alles zu, solange es nur irgendwie böse oder unsittlich war.
    Das Bild nackter Jungfrauen beispielsweise, die sich in mondbeschienenen Nächten auf einem einsamen Berg trafen und dort abenteuerliche Dinge vollführten, schien die Phantasie vieler Menschen eigentümlich zu beflügeln.
    Leider
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