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Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt

Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt

Titel: Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt
Autoren: André Ziegenmeyer
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anderen rutschte.
    Ursprünglich hatte sie die Augen nur geöffnet, um nicht mit diesem Gefühl allein zu sein. Dann kam die Übelkeit und sie hatte sie wieder geschlossen. Mittlerweile fühlte sich die Hexe einigermaßen in der Lage, ihre Umgebung zu ertragen – sie wusste nur nicht, an welchem Ort sich diese
befand. Einer oberflächlichen Inventur zufolge beinhaltete ihr direktes Umfeld einen Fichtenwald, einen käsigen Vollmond und jede Menge Nebel – wogegen es kaum etwas einzuwenden gab. Nur leider konnte Auguste nicht sagen, wie sie an diesen Ort gelangt war.
    Unter leisen, aber handverlesenen Verwünschungen setzte sich die Hexe auf – und klammerte sich sogleich am moosigen Untergrund fest, als der Gletscher gefährlich zu knirschen begann. Verschiedene Gedanken kämpften um ihre Aufmerksamkeit, blieben jedoch immer wieder in einem stumpfen Wust aus Schmerz und Verwirrung hängen.
    Abwesend versuchte die Hexe, ihr langes, braunes Haar zu ordnen, von dem es insgesamt eine ganze Menge gab. Eigentlich zählte Auguste Fledermeyer durchaus zu den attraktiven Geschöpfen. Doch aus irgendeinem Grund wirkte die obere Region ihres Kopfes immer, als wäre sie das letzte überlebende Opfer eines Wirbelsturms. Außerdem machte die Hexe recht häufig von einer speziellen Eigenart Gebrauch.
    Auguste Fledermeyer war in der Lage, ihre Augenbrauen so weit in die Höhe zu ziehen, dass sie jeweils einen perfekten rechten Winkel bildeten. Das förderte nicht unbedingt den natürlichen Liebreiz, war im Umgang mit anderen Personen jedoch von großem Vorteil. Bisweilen brachte es selbst Bäume und Steine in Verlegenheit.
    Nun zeigte sich auf ihrem Gesicht ein ähnlicher Ausdruck, als sie argwöhnisch zum Himmel empor blinzelte. War der Mond auch letzte Nacht schon so voll gewesen? Diese Unsicherheit versetzte ihrem Berufsethos als Hexe einen empfindlichen Stich. Ebenso gut konnte man vergessen, wie viel Finsterwurz in einen Liebestrank gehörte! Doch allgemein schien ihr Gedächtnis derzeit einem Berg von Dingen zu gleichen, die jemand mit Hingabe aus ihren angestammten Regalen herausgeschüttelt und verquirlt hatte.
    Je tiefer und angestrengter Auguste in sich hineinhorchte, umso stärker wurde das Gefühl, dass unter diesem Berg noch etwas anderes auf sie wartete. Und aus einem unbestimmten Grund war sie sicher, dass sie dieses Etwas nicht mögen würde. Mit der majestätischen Würde und Unaufhaltsamkeit einer Kontinentaldrift schob sich der Verdacht durch ihr Bewusstsein, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
    „Nun“, dachte sie, während sie mühsam aufstand und einige Stücke Waldboden von ihrem Rock klopfte, „was immer es ist: es wird noch ein wenig warten müssen.“
    Zunächst hielt sie es für ihre Pflicht, einigen Herren eine nachdrückliche Lektion in punkto guter Manieren zu verabreichen. Auch wenn ihre Erinnerung gegenwärtig ein paar Lücken aufwies, trug sich Auguste mit dem sehr eindringlichen Gefühl, nicht gut behandelt worden zu sein.
    Schnaufend krempelte die Hexe ihre Ärmel hoch und stapfte los. Sie hatte nie ein besonderes Talent zur Untätigkeit besessen. Bisweilen brachte dieses Temperament gewisse Schwierigkeiten mit sich – allerdings vorrangig für andere Personen. Einigen Herrschaften stünde es daher besser an, wenn sie sich bereits ein paar überzeugende Antworten zurechtgelegt hätten.
    Ihre drohend erhobenen Augenbrauen sorgten dafür, dass viele Tiere in dieser Nacht einen weiten Bogen um Auguste Fledermeyer machten und ein großer Teil des Waldes in ängstlich geduckter Stille verharrte. Zwei Schemen ließen sich davon jedoch nicht aufhalten, lösten sich aus dem Unterholz und hängten sich an ihre Fersen. Freilich fühlten sie sich bei dieser Aufgabe nicht sonderlich wohl – und es sollte nicht lange dauern, bis ihre schlechte Vorahnung um ein paar inhaltsschwere Gewissheiten ergänzt wurde.
    Etwa eine Stunde später stand die Hexe auf einer Straße. Der Mond hing hoch über dem Rand der Welt und ließ sein silbriges Licht über die Blätter der Bäume schimmern. Vor wenigen Augenblicken hatte Auguste Fledermeyer ein paar Zweige zur Seite geschoben. Dahinter erspähte sie das flache Band, das sich tief aus dem Tal herauszuwinden schien und zwischen den Kuppen zweier Hügel verschwand. Energisch beschleunigte sie ihren Schritt und zerteilte den Nebel vor den äußeren Schichten ihres Rockes wie vor dem Rammsporn einer Galeere. Dann stand sie plötzlich still, und auf ihrer
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