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Domfeuer

Domfeuer

Titel: Domfeuer
Autoren: Dennis Vlaminck
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Paulus’ Welt stand kopf.
    Und er fürchtete, dass es noch schlimmer kommen würde. Er hockte auf dem Ast, weil er Angela unter den Teilnehmern der Prozession vermutete. Er musste sie sehen. Er musste wissen, wie sie zu ihm stand. Noch hatte Paulus die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass Angela ihn vielleicht doch nicht verraten hatte.
    Mit der Zeit trafen noch mehr Menschen ein, die sich den Zug ansehen wollten. Es versprach ein außerordentliches Schauspiel zu werden, so wie es die Sylvesterprozession war, bei der die Gläubigen das Haupt von Papst Sylvester in einem vergoldeten Kopfreliquiar durch die Straßen trugen.
    Die Zeit floss träge dahin, ein zäher Mahlstrom, der machtvoll an den Fäden von Paulus’ Geduld zog. Von der Kirche der heiligen Jungfrauen kamen ein paar ältere Stiftsdamen herüber. Sie stellten sich ebenfalls an der Straße auf und kicherten wie kleine Mädchen.
    Als er die Freudengesänge und das fröhliche Spiel von Instrumenten aus der Ferne hörte, spürte Paulus sein Herz in der Brust. Es war die gleiche Musik wie vor ein paar Stunden, als er im Palast erwacht war. Bald sah er den Zug, der die Straße herabkam.
    Der Prozession voran hüpfte ein kleines Männchen, bunt gekleidet und einen krummen Säbel schwingend. Mit rudernden Armen sprang es auf die Zuschauer am Wegesrand zu, brüllte sie an, schnitt Grimassen und lief lachend davon. Der Geck war guter Brauch bei vielen Prozessionen in Köln. Er ebnete dem Zug den Weg und stimmte mit Heiterkeit auf die Feierlichkeit ein.
    Banner und Baldachine, Reliquiare und Reiter, Fahnen und Fuhrwerke – Paulus hatte noch nie eine solch prächtige Prozession gesehen. Ein endloser Fluss aus Menschen trieb an ihm vorüber, aus hohen Herren und einfachen Frauen, aus Äbten und Prioren, aus Hörigen und Handwerkern. Von Paulus’ erhöhtem Ausguck sah der Zug noch imposanter aus. Er konnte stadtauswärts bis zur Eigelsteinpforte und stadteinwärts bis fast zur Domruine sehen – die Prozession füllte die gesamte Strecke. Paulus hatte Mühe, jedes Gesicht zu mustern. Zu viele Menschen waren auf der Straße unterwegs, und immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich vom Anblick der Prozession überwältigen und ablenken ließ. Schließlich gab er die Hoffnung auf, Angela im Zug zu erspähen.
    Als er den ersten Fuß gegen den Stamm setzte, um hinunterzuklettern, entdeckte er den größten Wagen der Prozession. Paulus hielt in der Bewegung inne. Der Schrein der Heiligen Drei Könige lag auf der Ladefläche und wagte mit der Sonne einen Wettstreit, wer das schönste Strahlen für sich beanspruchen konnte. Wo immer der Wagen mit dem Schrein fuhr, brandete Jubel auf. Die Menschen fielen auf die Knie und stimmten Freudengesänge an. Eine Welle des Beifalls rollte im Schritttempo durch Köln.
    Die Kölner hatten ihren Dom verloren, aber die Gebeine der Heiligen Drei Könige und den Schrein behalten.
    Gleich hinter dem mit bunten Tüchern und Frühlingsblumen geschmückten Wagen ritten Erzbischof Konrad von Hochstaden und Dompropst Konrad von Büren, dahinter das Domkapitel, die beiden Bürgermeister, Patrizier, Schöffen und hohe Geistliche. In Höhe von Paulus’ Apfelbaum jedoch stoppte der Zug. Der Erzbischof hatte die Hand gehoben. Er blickte zu Paulus hinüber, der immer noch mit beiden Händen an einem Ast hing. Die Menge verstummte, und Paulus’ Herz setzte aus.
    Der Erzbischof senkte die Hand ein Stück und deutete mit dem Finger auf Paulus. »Das ist der Mann, der die Gebeine der Heiligen Drei Könige gerettet hat.«
    Dann stieg er von seinem Pferd, bahnte sich einen Weg durch die Menschen und ging festen Schrittes auf Paulus zu.
    Angela drängte ein Stück nach vorn, nicht zu weit, denn auf keinen Fall wollte sie, dass Paulus sie entdeckte. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht, es war tatsächlich Paulus, vor dem sich der Erzbischof gerade tief verbeugte, während die Umstehenden Beifall spendeten und Rufe der Anerkennung ausstießen. Und nun nahm der hohe Herr ihn sogar in die Arme. Am liebsten wäre sie weitergegangen, aber sie konnte sich nicht von diesem Anblick lösen. Der Erzbischof lobte und ehrte gerade Paulus, ihren Paulus.
    Doch nein, er war nicht mehr  ihr  Paulus. Nicht mehr seit dem Augenblick, in dem sie sich entschieden hatte, seinem Flehen nicht zu folgen, ihm keinen Glauben mehr zu schenken und ihn bei Gericht anzuzeigen. Nicht mehr seit jenem Moment, als sie damit begonnen hatte, sich auszumalen, was die Belohnung für
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