Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten
Autoren: Sigrid Lenz
Vom Netzwerk:
saftigen Masse. Feine Wurzeln kletterten einer Zukunft entgegen, die Temotas nicht sehen, von der er nichts wissen wollte.
    Seine Organe, obgleich ausgedorrt und vertrocknet, revoltierten. Sein Inneres geriet in Bewegung. Ihm wurde schlecht von dem, was er zu sehen glaubte.
    „Das kann nicht sein“, keuchte er. „Ich bin zu tief. Ich habe zu weit gegraben. Kein Leben darf mich stören.“
    „Denkst du, ich sei kein Leben?“ Schmeichelnd klang die Stimme diesmal, erfüllt von unausgesprochenen Versprechungen.
    „Du bist…“ Temotas schwieg. Er wusste nicht, welch eine Kreatur es war, die ihn aus seinem starren Schlaf zu erwecken suchte.
    „Kein Leben“, vervollständigte er den Satz. „Du bist etwas anderes.“
    „Wie Recht du doch hast“, zischte die Stimme in sein Ohr. „Ich bin etwas anderes, ebenso wie du. Und für uns beide gilt die gleiche Regel, das gleiche Schicksal.“
    „Das denke ich nicht.“ Temotas knirschte mit seinen Zähnen, fühlte wie sie sein schmerzendes Zahnfleisch versuchten, zum Bluten zu bringen. Vergeblich, da jeder Tropfen bereits in die dunkle Erde gesackt war, jede Kraft aus ihm gestorben.
    „Sieh doch!“, lockte die Kreatur. „Es ist nicht mehr weit. Dein Schlaf ist beendet, dein Traum ausgeträumt.“
    „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, wehrte sich Temotas und schloss wieder die Augen. Doch er konnte nicht verhindern, dass seine Sinne erwachten, dass er spürte, wie sich um ihn herum, jede Zelle teilte. Wie sich das mikroskopisch kleinste aller Wesen an ihn schmiegte, wie Samen aufsprangen, Keime sich in die Höhe reckten, einem Ziel entgegen, das er nicht sehen konnte.
    „Wie kann das sein?“, flüsterte er. „Du weißt nicht, was du tust?“
    „Ich weiß, was ich tun muss.“ Die Kreatur kroch an ihm herab, hinterließ schmerzende Spuren auf seinem Körper. „Du bist weit genug gekommen. Nun gibt es kein Zurück.“
    „Ich habe mich nicht bewegt“, sagte Temotas. „Seit Jahrhunderten nicht mehr.“
    „Du nicht“, wisperte das Wesen. „Doch alles um dich herum befindet sich in ständigem Fluss. Und nun bist du in meiner Welt. Hier musst du mir gehorchen.“
    „Wer bist du?“, fragte Temotas.
    Das Wesen kicherte, diesmal hell und schaurig. „Manche nennen mich Persephone“, hauchte es, bis er jede Silbe in seinen Eingeweiden spürte. „Ich bringe das, was tot erscheint, zurück ins Leben.“
    „Ich kann nicht zurück“, krächzte Temotas. „Ich darf nicht.“
    „Das ist nicht mehr unsere Entscheidung“, erwiderte Persephone. „Verstorbenes verwandelt sich. Noch bevor die Kälte der Wärme weicht, wissen die Kräfte, die uns bestimmen, von der Aufgabe, die vor ihnen liegt. Und aus dem Starren, Schlafenden wird Bewegung, entwickelt sich ein neues Sein. Jedes Mal anders, jedes Mal neu und doch jedes Mal wild und schön.“
    „Doch bin ich kein Teil davon“, sagte Temotas. „Was du erschaffst, töte ich von neuem.“
    „Alles stirbt“, sagte Persephone. „Alles muss sterben.“
    „Wir nicht“, antwortete Temotas. „Wir gehören nicht dazu.“
    „Woher willst du das wissen?“ Persephone schlängelte sich an seinem Körper hoch, presste ihre Weichheit gegen seine Härte.
    „Auch wir haben unseren Teil auszuführen. Eine Aufgabe, eine Bestimmung.“
    „Du vielleicht“, wisperte Temotas und umschlang sie mit seinen tauben Armen. „Meine Bestimmung ist dieses ewige Grab.“
    „Dann hat deine Bestimmung sich verändert“, murmelte Persephone und ihr mundloser Körper küsste seinen Hals.
    „Das ist nicht möglich“, dachte Temotas. „Das will ich nicht, ich kann nicht.“
    „Doch, du kannst“, antwortete Persephone. „Du bist stark. Du bist wieder jung, du wirst die Welt mit neuen Augen sehen.“
    „Meine Augen sind der Welt müde“, erwiderte Temotas. „Es existiert nichts auf Erden, das sie nicht schon zu oft gesehen, zu oft vernichtet haben.“
    „Du erinnerst dich nicht an den Zauber der Nacht“, schmeichelte Persephone. „Du erinnerst dich nicht an die betäubenden Düfte der ersten Blüten des Jahres. Weißt du nicht mehr, wie das junge Grün deine Sinne erfüllt, wie der Regen zarter Apfelblüten dein Herz zum Schlagen brachte? Kurz nur, so kurz. Ein widernatürliches Ergebnis überschäumender Emotion. Weißt du nicht mehr, wie das milchige Mondlicht die zarten Opfer erster Frühlingsnächte umfließt? Wie ein funkelnder Stern, wie die Hoffnung, der Trieb die Menschen aus ihrem Schutz lockt? Weißt du nicht mehr,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher