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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Autoren: Taiye Selasi
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diesen Augenblick denkt, kann er den Ausdruck auf dem Gesicht des Vierzehnjährigen vor sich sehen. Olu schien – innerhalb von Sekundenbruchteilen – wieder ein kleines Kind zu werden, voller Vertrauen. Der Junge verwandelte sich, sein Gesicht weit offen, seine Augen so frei von Zweifel, dass Kweku den Blick senkte. Dass sein ältester Sohn seine Fähigkeiten als Arzt so hoch schätzte, brach ihm das Herz (ein zweites Mal. Das erste Mal hatte er es nicht gespürt). Er schüttelte schwach den Kopf und blickte auf seine Hände. Seine Finger, immer noch starr von dem schnellen Lauf durch den Schnee. Er taumelte am Abgrund, aber er wusste nicht, an welchem; irgendeine seltsame Kraft baute sich immer mehr auf, in ihm und gegen ihn. »Sie hat nicht das Herz dafür …«, begann er, unterbrach sich aber dann. Sie waren jetzt an der Glastür zum Säuglingssaal.
     
    Kweku spähte hinein.
    Da war es.
    Auf der linken Seite.
    Zweieinhalb Pfund, kaum atmend, kaum ein Leben.
    Überall Pflaster, aus denen Schläuche kamen. Es sah aus wie E.T. auf dem Weg nach Hause.
    Olu presste die Hände an das Plexiglasfenster. »Welches Baby ist es?«, fragte er und legte die Hände schützend um die Augen. Kweku lachte leise. Olu sagte nicht
sie
. Nur
es, das Baby
. Ein kleiner Arzt im Entstehen. Er zeigte auf den Brutkasten, auf das handgeschriebene Schild. »Das da«, sagte er. »Baby Sai.«
     
    Es war nur eine Kleinigkeit, wirklich, ein minimaler Ausrutscher (»Sai«), dass er seinen Nachnamen laut aussprach, als er ans Glas klopfte, aber er war ja schon am Abgrund entlanggetaumelt, als es passierte und er, während er auf den Brutkasten deutete, seinen eigenen Namen aussprach. Beides zusammen – der Klang seines Namens, ein lauter Atemhauch im Raum, und der Anblick des Neugeborenen, das um den Atem kämpft – bewirkte, wie eine explosive Verbindung, dass »Baby Sai« irgendwie sein Baby wurde. Es gehörte ihm.
    Sie gehörte ihm.
    Und sie war perfekt.
    Und sie war
winzig
.
    Und sie war dabei zu sterben. Und er fühlte es, fühlte dieses Sterben, mitten in seinem Inneren, mit wachsender Wucht, eine ungebremste Panik, die seine Lunge ergriff und seine Brusthöhle mit einem Summen erfüllte: kribbelnd, zäh, beißend und stechend. Er hörte sich selbst flüstern: »Da ist sie« oder so etwas Ähnliches, aber weil sich sein Kehlkopf zusammenzog, erkannte er seine Stimme nicht.
    So wenig wie Olu, der aufblickte. Erschrocken.
    »Dad«, flüsterte er. Gequält. »Nicht weinen.«
    Aber Kweku konnte nichts dagegen tun. Er merkte es gar nicht richtig. Die Tränen kamen so schnell, flossen so leise.
Sie gehörte ihm, war seine
. Dieses kostbare Ding da, mit Zehennägeln wie Tautropfen, ihre zehn winzigen Finger zusammengerollt vor Hoffnung, kleine Fäuste der Entschlossenheit, und ihre blütenblattdünne Haut, wie eine Blume, die Fola an ihrem Gesicht erkennen konnte. Schon jetzt Folas Liebling. Und Fola: wartend, hoffnungsvoll, aufgestützt im Bett, schwitzend, blutverschmiert. Auch seine.
    Du musst etwas tun
.
    Er musste etwas tun. Schnell wischte er sich übers Gesicht, mit der Rückseite seines Arms. Das Salz brannte in der Wunde. Er drückte Olus Schulter. Um sich selbst zu beruhigen.
    »Dann komm mit.«
     
    Die nächsten sechsundneunzig Stunden blieb er im Personalraum des Krankenhauses, schloss Freundschaft mit den verschlafenen Assistenzärzten, die ebenfalls dort schliefen, konsultierte Kollegen, recherchierte Behandlungsformen, las wie besessen, schlief kaum, bis sein Gegenspieler besiegt war. Bis das Neugeborene einen Namen bekam. Und nicht
Idowu
, nicht diesen Namen, der so zäh war wie Ziegenfleisch, den Fola für das leidgeprüfte Kind ausgesucht hatte, das direkt nach den Zwillingen geboren worden war. Er entschied sich für
Sadé
, als sie das Mädchen endlich, endlich nach Hause brachten – mit der Begründung, dass zwei Folas zu verwirrend wären. Seine erste Wahl war
Ekua
, wie seine Schwester, »geboren am Mittwoch«, aber Fola hatte schon vor Jahren die Oberhoheit auf dem Gebiet der Namensgebung übernommen (erster Vorname: nigerianisch; Mittelname: ghanaisch; dritter Name: Savage; Nachname: Sai). Sadé nannte sich
Sadie
, als sie in die Junior High kam, mit der Begründung, dass ihre Mitschüler Sadé sowieso wie
Sadie
aussprachen. Aber eine Krankenschwester wählte als Erste
Folasadé
, unbeabsichtigt, in dieser letzten Nacht im Brigham.
    Noch ein Zufall.
    Er war nach Mitternacht allein im Säuglingsraum mit dem
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