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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Autoren: Taiye Selasi
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kein
Gewicht
hat, dass man sie unmöglich akzeptieren kann. Der Tau auf dem Gras und das Licht auf dem Tau und die Färbung dieses Lichts – das ist nichts für einen Arzt wie ihn, der weiß, dass solche Dinge selten eine Nacht überleben. Der weiß, dass sie zwar da sind, aber nie lange, für die Welt, wie er sie kennt, diesen grausamen und sinnlosen und quälenden Ort. Der weiß, dass sie entweder zerbrochen werden oder wegbrechen, sich befreien von dem, was Verlust bedeutet. Und dass die Neugeborenen-Intensivstation, N.I.C.U., es richtig gemacht hat.
     
    In der N.I.C.U. empfiehlt man, keinen Namen zu geben, wie er in seinem dritten Ausbildungsjahr in der Pädiatrie lernen sollte, in diesem herzzerbrechenden Winter 1975 , als seine Mutter gerade gestorben und sein erster Sohn gerade geboren war. Wenn ein unglückliches Neugeborenes aller Voraussicht nach das Wochenende nicht überstehen würde, riet man den Eltern davon ab, ihm einen Namen zu geben, und schrieb »Baby« samt Nachnamen auf das Schild am Brutkasten (»Baby A«, »Baby B« und so weiter, bei Mehrfachgeburten). Viele seiner Jahrgangskollegen fanden diese Praxis befremdlich – als würde man sich zu früh geschlagen geben. Das waren vor allem die Amerikaner, mit ihren weißen Zähnen und der Kuhmilch, für die Kindersterblichkeit etwas Unvorstellbares ist. Oder besser gesagt, vorstellbar in der Summe, als eine Zahl, eine Statistik, das heißt, x % der in Ghana geborenen Kinder sterben vor der zweiten Woche. Vorstellbar im Plural, aber inakzeptabel im Singular. Das
eine
grau-blaue Baby.
    Das verstorbene Baby Nachname.
    Für die Afrikaner hingegen (und die Inder und die Westinder und für den einen Flüchtling aus Lettland, dem es in Baltimore gefiel) war ein totes Neugeborenes nicht nur vorstellbar, sondern auch nicht weiter erwähnenswert, vor allem, wenn unvermeidlich, das heißt, erklärbar. So war das Leben. Ihnen erschien es nur logisch, keinen Namen zu geben, ja, sogar gut, ein Mittel, um Distanz zur Existenz und damit auch zum Tod zu schaffen. Etwas, was man sich typischerweise in Amerika ausdachte, während man sich in Riga oder in Accra gar keine Gedanken darüber machte. Die Sterilisierung menschlicher Emotion. Die Reduzierung aller Schmerzen auf das Niveau von Hallmark-Karten-Kummer. Von den vielen Gesichtern des Leids wird, als helfe eine fleißige OP -Schwester, alle Hässlichkeit abgewaschen.
    Gesichter, die Kweku Sai kannte.
    Ihm, der jeden Schmerz an seinem Gesicht erkennen konnte, war die Logik vertraut, aus einer wärmeren Dritten Welt, wo der Junge seine Mutter, blutverschmiert von den Wehen (von fruchtlosen Wehen), in der Dämmerung bis ans Ufer eines Ozeans begleitet und sieht, wie sie die kleine Leiche, in Palmblätter gewickelt, sozusagen ein unglücklicher Moses, in den Schaum der Wellen legt und dann weggeht. Er wird sie niemals darüber sprechen hören, nie, kein einziges Mal – und er lernt, dass »Verlust« nur ein Konstrukt ist. Nur ein Gedanke. Den man ausformuliert oder auch nicht. Mit Worten. Das heißt, etwas, dessen Existenz man gar nicht bis ins Denken vordringen lässt, kann man nicht verlieren, und man kann nie sagen, man habe es verloren.
    Schon damals, mit vierundzwanzig, als junger Vater und immer noch Kind, ein neuerdings mutterloses Kind, wusste Kweku das alles.
     
    Jetzt starrt er auf das Glitzern, er wird zum Stillstand gebracht von der Schönheit, und er weiß, was er vor so vielen Wintern wusste. Wenn man vor etwas steht, was fragil und perfekt ist, in einer Welt, die hässlich und erdrückend und grausam ist, dann lautet die korrekte Verhaltensregel: Gib ihm keinen Namen. Tu so, als existierte es nicht.
    Aber das funktioniert nicht.
    Er spürt einen zweiten Stich, jetzt, weil es die Perfektion gibt, weil die Perfektion hartnäckig gegenwärtig ist, gerade in den verletzlichsten Dingen, selbst wenn er sich noch so weigert – eine bewundernswerte, logische Weigerung –, sich in seinem Herzen, in seinem Denken darauf einzulassen. Und weil seine Logik so trostlos ist. Gleichgültig, an
welchem
Faden er zieht, um den elenden Knoten zu lösen: (a) wie vergeblich es ist, etwas zu sehen, angesichts der Vergänglichkeit des Schönen, vor allem des Schönen in der Zerbrechlichkeit, und das an einem Ort wie diesem, wo eine Mutter, noch blutig, ihr Neugeborenes begraben muss, sich danach abwäscht und nach Hause geht, um Süßkartoffeln zu Brei zu stampfen; (b) wie beharrlich das Schöne ist, ausgerechnet in
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