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Diebe

Diebe

Titel: Diebe
Autoren: Will Gatti
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leicht etwas zu wohl fühlen. Baz fragt sich, ob auch Raoul sich zu wohl fühlt.
    Nach Baz – und Demi natürlich – ist Raoul jetzt am längsten bei Fay, über zwei Jahre. Er ist richtig gut, flink auf der Straße, und alle mögen ihn. Er trägt stets ein großes Lächeln zur Schau, und Baz glaubt, dass er auch ein großes Herz hat. Immer ist er für die übrigen Mitglieder der Bande da, selbst für die Kleinsten, die Fay herbeischleppt. Aber er hat auch ein großes Mundwerk, und manchmal weist Fay ihn scharf zurecht und schneidet ihm das Wort ab, wenn es zu viel wird.
    Baz geht hinüber zur schattigen Straßenseite und kauft sich eine Cola. Sie betastet die Geldbörse, die Demi ihr zugesteckt hat und die nun hinterm Bund ihrer Jeans klemmt. Feines Leder, doch Fay sagt, sie sollen nur das Geld mitbringen. »Sobald du das Geld in der Hand hast, ist es deins, aber das Portmonee gehört immer jemandem. Wenn man’s bei dir findet, komm bloß nicht zu mir gerannt und schrei um Hilfe.« Baz verdrückt sich in eine ruhige Seitenstraße. Im Nu hat sie das Portmonee geleert – die Scheine verstaut sie im Schuh, die Münzen in der Hosentasche – und sich wieder unter die Passanten gemischt.
    Dann sieht sie Demi auf der anderen Straßenseite vor einem Zeitungskiosk stehen. Er schaut sich die Zeitschriften an. Der Kioskbesitzer beobachtet ihn – Kioskbesitzer sind immer auf der Lauer, wenn Kinder oder Jugendliche vor ihrem Kiosk stehen, ganz gleich, ob sie gepflegt aussehen oder nicht. Wer einen Stand auf der Straße hat, hält jedes Kind für einen Dieb. Wahrscheinlich sogar zu Recht. Aber Baz bemerkt noch eine andere Person, einen jungen Mann mit bleichem Gesicht und blonden Locken, der Demi ebenfalls zu beobachten scheint. »Könnte reich sein«, überlegt sie, das Aufblitzen von Silber an seinem Handgelenk ist ihr nicht entgangen. Er steht einfach nur da und raucht eine Zigarette. Vielleicht wartet er auf jemanden.
    Demi erhascht ihren Blick, und Baz weiß, dass er sich nun gleich zum Stadtzentrum aufmachen will. Sie nimmt noch einen Schluck von ihrer Cola und wirft dann die Dose direkt vor der Nase eines Polizisten in eine Mülltonne. Der Polizist hat ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt, die Augen sind hinter einer dunklen Brille verborgen. Baz kehrt ihm den Rücken zu und zieht los. Während sie die Straße entlanggeht, wirft sie kaum einen Blick hinüber zu Demi, bleibt ihm aber wie ein Schatten immer auf den Fersen.
    Wie sie es gelernt hat, beobachtet sie ihre Umgebung genau und hat dabei ständig ein Auge auf die weit geöffnete Einkaufstasche oder die dicke Brieftasche, die geradezu darum bettelt, aus der offenen Hosentasche gezogen zu werden. Es juckt sie in den Fingern, als sie einen Mann sieht, der ein ganzes Bündel Banknoten in der Hand hält, einen einzelnen Schein hervorpult, sich eine Zigarre kauft und dann das dicke Bündel wieder in die Gesäßtasche steckt. Ein richtiger Fettwanst mit watschelndem Gang und großen Schwitzflecken unter der Baumwolljacke. Wär ganz leicht, denkt Baz, geht dem Mann aber trotzdem nicht hinterher. Heute ist sie nur Beobachter, ihre Aufgabe besteht darin, dem Dieb Deckung zu geben. Demi würde toben vor Wut, wenn sie nebenbei noch in Taschen langt, anstatt auf ihn aufzupassen. Schlagen würde er sie deswegen allerdings nicht, das hat er noch nie getan – anders als Fay. Fay behauptet, wer Schläge kriegt, lernt schnell.
    Baz und Demi haben ihr ganzes Leben lang schnell gelernt. Sonst hätte Fay sie nicht bei sich behalten, das weiß Baz ganz genau. Keine Fehler. Niemals. »Wenn ihr einen Fehler macht«, sagt Fay, »dann bin ich diejenige, die sie drankriegen. Sobald das passiert, ist keiner mehr sicher. Jeder, den ich kenne«, und sie meint damit nicht nur die Kinder, Baz vermutet, dass auch all die zwielichtigen Leute gemeint sind, mit denen Fay ihre Geschäfte macht, »jeder Name kommt aufs Tablett und jeder wandert ins Schloss. Und da ist dann Endstation.« Ins Schloss will keiner wandern. Das Schloss ist das städtische Gefängnis.
    Baz erinnert sich nur dunkel und bruchstückhaft an das erste Mal, als sie allein war. Es war Abend, die ganze Zeit herrschte Lärm, Lichter huschten vorüber, vielleicht Autos, auch bunte Lichter waren dabei. Jemand zog sie ständig an der Hand, und ihre Beine waren so müde, dass sie kaum Schritt halten konnte. Sie kann sich kein Bild mehr machen von der Person, die sie damals bei der Hand hielt. Wahrscheinlich war’s eine Frau,
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