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Diebe

Diebe

Titel: Diebe
Autoren: Will Gatti
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rausspüln muss. So sieht’s aus.« Die Worte sprudeln aus ihm heraus wie das Rauschen im Radio, wenn ein Unwetter bevorsteht.
    Sie packt seinen Arm, drückt richtig zu, ohne darüber nachzudenken, dass sie ihm die Jacke in die wunde Stelle presst. Als er zusammenzuckt, lässt sie sofort wieder los. »Die ham Bilder von uns? Wissen, wer wir sind?« Sie hat keine Zeit, sich Sorgen um Señora Dolucca zu machen. Nicht jetzt. Sie hat das Gefühl, ein Knoten würde sich in ihrem Nacken zusammenziehen, so fest wie der Griff eines Polizisten.
    »Nein«, murmelt er. »Bilder hab ich nicht gesehn ...«
    Der Knoten löst sich wieder. »Dann los. Geh jetzt, sag dem Mann, was ich dir gesagt hab, und denk dran – Tianna.«
    Er neigt ganz leicht den Kopf und Baz gleitet durch die sich unablässig bewegende Menge davon. Als sie an der Seitentür der Vorhalle angelangt ist, blickt sie zurück und sieht, dass Lucien auf den Mann zugeht, der gerade seine Zeitung zusammenfaltet. Dann eilt sie hinaus auf die Straße und rennt zum Haupteingang zurück. Das ist jetzt ihre Chance: Wenn sie jetzt hier wegkommen, dann können sie in Tianna untertauchen. Können von dort weiterziehen. Und sie werden zu dritt sein. Sie wird sich die Haare wachsen lassen, einen Rock tragen. Sie werden eine Familie sein. Sie werden sicher sein. Sie müssen nur den Zug kriegen. Das ist alles.
    Sie zwingt sich, die breite Treppe langsam hinaufzugehen und ohne Hast die Bahnhofshalle zu betreten. Sicher, viele Leute sind hier in Eile, aber wenn Kinder wie sie im Laufschritt unterwegs sind, dann heißt das für die Uniformierten immer nur eins: nämlich dass das betreffende Kind Ärger bedeutet. Und dann schnappen sie zu, dann gehen sie auf sie los wie ein Hund auf eine Ratte.
    Baz sucht den Querbahnsteig ab, aber sie kann Demi nicht sehen. Okay, sagt sie sich, er steht schon beim richtigen Gleis. Alles, was sie zu tun hat, ist, das Gleis zu finden. Noch einmal unterdrückt sie ihre Eile, geht gemessenen Schritts zur Mitte des Querbahnsteigs und blickt hinauf zur Tafel. Wie oft war sie schon hier mit Demi und hat dies doch noch kein einziges Mal gemacht, hat noch nie bemerkt, wie viele Namen dort oben in kleinen weißen Buchstaben stehen, ein bisschen flackernd, sodass man sie schwer lesen kann. Zeiten werden eingeblendet, aber die Gleisanzeige ist leer, bevor dann plötzlich doch eine Zahl aufblinkt. Da! Tianna. Gleis sieben. Sie hat noch sechs Minuten!
    Sie geht schnell zur Sperre. Reisende strömen in beide Richtungen über den Bahnsteig, und dazu gibt es noch allerlei fliegende Händler und Obstverkäufer, Männer, die heiße Esswaren in fettigen Papiertüten verkaufen, und solche, die sich einen Behälter mit eiskaltem Wasser auf den Rücken geschnallt haben und sich damit mühsam fortbewegen.
    Aber von Demi keine Spur. Er hat gesagt, er würde an der Sperre auf sie warten. Sie blickt zurück zum Eingang. Vielleicht ist er dort und sucht sie. Vielleicht ist er von Greifern geschnappt worden ...
    Demi ist zu schnell. Keiner kann ihn schnappen. Und sie wollten sich an der Sperre treffen.
    Aber wo ist er?
    Sie wünschte, sie würde nicht aussehen wie die letzte Rotznase aus dem Barrio. Sie wünschte, sie wäre sauber. Sie wünschte, Demi und Lucien wären jetzt hier, sie würden zusammen über den Bahnsteig gehen, den Zug besteigen, sich ihre Plätze suchen, die Stadt verlassen.
    Sie springt auf einen Gepäckwagen auf, achtet nicht auf das Schimpfen des grauhaarigen Bediensteten im gelben Hemd der Bahngesellschaft, der sie auffordert, sie soll da sofort runterkommen. »Fährt dieser Zug pünktlich ab?«, fragt sie ihn.
    »Woher soll ich das wissen? Komm da runter, sonst ruf ich ’n Polizisten. Willst du das?«
    Statt darauf zu antworten, springt sie wieder ab und trabt am Rande des Querbahnsteigs entlang. Keine Zeit mehr, sich noch Gedanken darüber zu machen, was die Leute beim Anblick eines rennenden Kindes denken mögen. Sie sucht die Bänke ab, wo ganze Familien, die gerade von irgendwo aus der Provinz eingetroffen sind, erst einmal Mahlzeit halten und sich aufgeregt umgucken, hier in der großen Stadt, dem Ziel ihrer Reise. Sie sucht bei den kleinen Ständen, wo irgendwelcher billiger Tinnef für alle Naiven und Ahnungslosen feilgeboten wird: ein Mann, der Knochen wirft und dann das Schicksal vorhersagt – jedes Schicksal, das man hören will; er hat die Gabe, es einem auszumalen. Und eine Frau, die Briefe schreibt für Leute, die ihren Angehörigen
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