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Die zweite Wirklichkeit

Die zweite Wirklichkeit

Titel: Die zweite Wirklichkeit
Autoren: Vampira VA
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wundern können.
    Denn etwas war da .
    Nicht körperlich und nicht zu sehen, aber spürbar. Eine Art Impuls, ein Signal, mehr noch: ein Locken, dem sich der junge PriesterAspirant nicht widersetzen konnte. Wohl auch deshalb, weil er es nicht wollte.
    Denn es ging nichts Schlimmes aus von dem, was ihn da rief, wenn auch ohne Worte und selbst ohne Stimme. Dennoch schien ihm dieser Vergleich noch am passendsten: Etwas (nicht einmal je-mand, das wußte und spürte er) rief nach ihm, auf eine Weise, die sich allein schon dem Versuch des Verstehenwollens entzog. Und es war etwas wie ein Hilferuf, der ihn da ereilte - und zugleich ein Befehl.
    Der junge Mann folgte der »Spur«, ohne sie wirklich suchen zu müssen. Wie an einem unsichtbaren Band gezogen, fand er seinen Weg. Er führte ihn durch die Küche, die er gemeinsam mit Pater Lorrimer, dem Vorstand dieser Pfarrei, nutzte. Dann den schmalen Gang zur Sakristei entlang, auch dort hindurch und schließlich durch die niedrige Tür in den Altarraum der kleinen Kirche am Trumper Park.
    Leer und verlassen lag das schmale und nicht sonderlich auffallend geschmückte Kirchenschiff vor ihm. Das Licht, das durch die Buntglasfenster von draußen einfiel, schuf mehr Schatten, als daß es das Gotteshaus erhellt hätte. Trotzdem genügten dem jungen Mann die Sichtverhältnisse, um erkennen zu lassen, daß sich außer ihm niemand hier befand.
    Er erinnerte sich, daß der Pater gestern gesagt hatte, heute morgen einige Krankenbesuche absolvieren zu wollen. Und Adele, die Haushälterin, kam nur noch zweimal in der Woche vorbei, seitdem er hier lebte und im Auftrag Pater Lorrimers einen Teil der Hausarbeit übernommen hatte.
    Atemlose, mehr als nur andächtige Stille herrschte. Dem jungen Priesteranwärter kam sie vor wie die Ruhe vor dem Sturm .
    Ein seltsam kieksender Laut wehte durch die Kirche. Der junge Mann schrak zusammen, weil ihm gar nicht bewußt war, daß er selbst das Geräusch ausgestoßen hatte. Eine Folge des merkwürdigen Gedankens, der hinter seiner Stirn entstanden war.
    Ruhe vor dem Sturm ...
    Was sollte das für ein Sturm sein, der dieser Ruhe folgen konnte? fragte er sich.
    Und was war mit dem Ruf, der ihn hierher geleitet hatte? Mit dem Betreten des Altarraumes war er wie abgerissen verstummt. Bis jetzt ... Doch nun, da er den Impuls wieder verspürte, war er anders.
    Unsichtbare Hände schienen sich um sein Gesicht zu legen und sanft, ohne wirklichen Druck, seinen Blick in eine bestimmte Richtung zu lenken. Andere Hände schoben ihn behutsam voran, so daß er automatisch einen Fuß vor den anderen setzte.
    Bis er unter dem gewaltigen Kruzifix stehenblieb, das die Stirnseite des Altarraumes zierte. Eine lebensgroße Heilandfigur hing daran, von der die Farbe längst abgeblättert war. Der Blick der hölzernen Augen war leer und tot - bei flüchtigem Hinsehen. Nur wer länger hinaufblickte, erkannte etwas darin. Und vielleicht konnte auch das nicht jeder.
    Der junge Mann jedenfalls glaubte, Leid und Zuversicht zugleich in den blanken Holzaugen dort oben zu sehen. Schon etliche Stunden hatte er in der Vergangenheit hier zugebracht, Zwiesprache mit dem Erlöser gesucht und zumindest einen geduldigen Zuhörer gefunden.
    Heute jedoch war etwas anders.
    Die Dornenkrone schien - zu glühen?
    Nicht unter Hitze allerdings, sondern in einem kalten Licht, das heller, strahlender war als alles, was der junge Nachwuchspriester je zuvor geschaut hatte.
    Er schluckte hart und trocken, denn es war noch nicht vorbei.
    Obwohl das Licht in seinen Augen schmerzte und sie längst tränen ließ, wandte er den Blick nicht ab. Zu sehr faszinierte ihn, was dort geschah - aber . geschah es überhaupt?
    Löste sich tatsächlich etwas wie eine funkelnde Perle aus dem umkränzten Haupt - ein Blutstropfen etwa? Und fiel er wirklich herab, nicht blutrot, sondern purpurfarben gleißend?
    Größer und größer schien er zu werden, je näher er dem Gesicht des jungen Mannes kam, und noch immer glaubte er sich zu täuschen, weil es nicht anders sein konnte. Diese kleine Kirche war nicht der Ort für ein Wunder - oder wie immer man nennen würde, was hier zu passieren schien.
    Der Tropfen traf auf seine Stirn, beißend kalt.
    Der junge Priesteranwärter stöhnte auf, darauf wartend, daß die Kälte sich über sein Gesicht verteilen würde, weil der Tropfen auseinanderlaufen mußte.
    Doch das geschah nicht.
    Die Kälte drang durch seine Haut, durch den Schädelknochen -und verschwand. Einen Moment
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