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Die Zeitwanderer

Die Zeitwanderer

Titel: Die Zeitwanderer
Autoren: Stephen R. Lawhead
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wurden, die blaue Hauben und über ihren langen Baumwollkleidern graue Umhänge trugen. Auf den beiden Seiten der groß angelegten Bucht erhoben sich breite schwarze Landzungen - zerklüftete Hügelketten, an deren Abhängen sich ein malerisches Städtchen aus kleinen weißen Häusern emporzog. Stämmige Männer, die in kurze, ausgebeulte Hosen und schlaff herabhängende Hemden gekleidet waren und Strohhüte auf den Köpfen trugen, schoben Handwagen oder fuhren mit Maultiergespannen das Ufer entlang. Sie halfen das große Schiff zu entladen und schafften in Sackleinen gewickelte Bündel fort.
    Verschwunden war King's Cross mit seinen Bürotürmen und den schmalen, von Autos und Doppeldeckerbussen verstopften Straßen mit ihren zahllosen Coffeeshops, kleinen Lokalen, Wettannahmestellen und Zeitungsverkäufern; auch das Betjeman Arms, das Postamt und die Volkshochschule gab es nicht mehr. In der Ferne waren auch nicht mehr die imposanten Gebäude der einst weltbeherrschenden Metropole London zu sehen - oder ihre dichten Ansammlungen von Stadtteilen und Einkaufsvierteln, die durch große Straßen für den Durchgangsverkehr und durch vierspurige Autobahnen miteinander verbunden wurden.
    Alles Vertraute, das für Kit als reale, konkrete Wirklichkeit mit absoluter Gewissheit existiert hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Und damit hatte auch sein eigenes Realitätsempfinden, gemäß dem handfeste Dinge unzweifelhaft existent waren, jegliche Sicherheit verloren. Die bekannte Umgebung war durch ein malerisches Küstenpanorama ersetzt worden, das so bezaubernd, so aufrüttelnd, so idyllisch und so anziehend aussah, dass es ein Gemälde in der Londoner Nationalgalerie hätte sein können. Dann aber traf ihn der Gestank - die strengen Ausdünstungen von Fischeingeweiden, verfaulendem Gemüse und von Teer. Ihm wurde ganz schummrig im Kopf, und er hatte ein flaues Gefühl im Magen.
    Hastig drehte Kit sich um und sah, dass die Gasse immer noch existierte, immer noch schmal war und immer noch gerade verlief. Ihr Ende allerdings lag in dunklen Schatten verborgen, als ob dort ein schreckliches Geheimnis verdeckt werden sollte.
    »Wo ...?«, fragte Kit und schluckte schwer. »Wo sind wir?«
    »Du brauchst nicht zu sprechen, bevor du nicht dazu bereit bist.«
    Kit wandte sich erneut um und richtete seinen erstaunten Blick auf das geschäftige Treiben vor ihm: das große Schiff, die muskulösen Hafenarbeiter, die Fischer in ihren Schlapphüten aus Filz, die Fischverkäuferinnen in ihren Holzschuhen und Kopftüchern. Verzweifelt bemühte er sich, mit dem Verstand zu verarbeiten, was seine Augen erblickten. Angesichts der schockierenden Veränderung der Realität suchte er Halt in äußerer Gelassenheit: »Was ist mit King's Cross passiert?«
    »Alles zu seiner Zeit, mein lieber Junge. Kannst du gehen? Vielleicht sollten wir den Kaffee vergessen und stattdessen einen Drink nehmen. Hast du Lust auf ein Pint?«
    Kit nickte.
    »Es ist nicht allzu weit«, teilte der alte Gentleman ihm mit. »Hier entlang.«
    Kit versuchte, sein aus der Fassung geratenes Ich in den Griff zu bekommen, und folgte seinem Führer in Richtung Hafen. Er hatte das Gefühl, als wollten die Beine ihm nicht mehr richtig gehorchen oder als wären sie nur geborgt und gar nicht mehr seine eigenen. Bei jedem seiner plumpen Schritte schien der Uferweg ins Schlingern zu geraten und sich zu verändern.
    »Du kriegst das wunderbar hin. Als es mir zum ersten Mal passiert ist, konnte ich noch nicht einmal aufrecht stehen.«
    Sie gingen an einer Reihe von winzigen Läden, Bootshäusern und einfachen Behausungen vorbei. Kit wurde schwindlig bei dem Versuch, alle Sinneseindrücke gleichzeitig zu verarbeiten. Als sie sich von dem übel riechenden Weg entfernten, wurde die Luft sauberer, obwohl sie immer noch von den Gerüchen des Meeres erfüllt war: Es roch nach Fisch und Seetang, nach nassem Hanf, Salz und Gestein.
    »Um deine vorhergehende Frage zu beantworten«, nahm der Alte den Faden wieder auf, »dieser Ort wird Sefton-on-Sea genannt.«
    Nach dem zu urteilen, was Kit sah, schien das Städtchen eine jener vergessenen Küstensiedlungen zu sein, in denen die Zeit stehen geblieben war, weil irgendein Gemeinderat beschlossen hatte, aus dem Fremdenverkehr Kapital zu schlagen. Oder vielleicht eher eine Ortschaft, die von der Zeit vergessen worden war. Sefton-on-Sea wirkte auf eine authentische Weise antiquierter und malerischer als jedes Fischerdorf an der Westküste, das Kit je zu
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