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Die Zeitmaschine Karls des Großen (German Edition)

Die Zeitmaschine Karls des Großen (German Edition)

Titel: Die Zeitmaschine Karls des Großen (German Edition)
Autoren: Oliver Henkel
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höchstens dreißig, aber seine matten dunklen Augen erzählten von den unvorstellbaren Grausamkeiten, die sie in nur wenigen Tagen sehen mussten. Der schwarze Bart, sonst sorgfältig gestutzt, war verfilzt und verdreckt, und die Haare waren verklebt von Schweiß und Schmutz. Staub überzog das Gesicht, in das Wochen der Anstrengung und Minuten der Todesangst ihre Furchen gezogen hatten und dessen linke Hälfte von verkrusteten Blutspritzern überzogen war. Der vergoldete Brustpanzer war verbeult, an wenigstens vier Stellen waren Pfeile und Schwerthiebe abgeprallt, und der reich verzierte, federgeschmückte Helm in seiner Hand trug ähnliche Spuren.
    So also sieht ein Sieger aus, dachte Rufus Scorpio und lachte nochmals kurz, bitter und zynisch. Dann ging er weiter.
    Der große Saal, den er jetzt betrat, war in das orange Licht der Abendsonne getaucht, das durch die hohen Fenster fiel und den weißen Marmor zum Leben zu erwecken schien. Am entfernten Ende des Saals befand sich ein dreistufiges Podest, und auf diesem stand ein goldener Prunksessel unter einem purpurnen Baldachin. Scorpio begann, seine Müdigkeit zu spüren. Aber der Anblick des Kaiserthrons konnte seine Erschöpfung noch einmal besiegen, und er ging mit schweren, langsamen Schritten auf das Podest zu. Am Fuß der untersten Stufe blieb er stehen und betrachtete still den glänzenden Thronsessel.
    Dafür also sind Menschen bereit, zu töten und zu verraten. Und bin ich denn besser? Ich habe heute Tausende Männer in den Tod geschickt, weil ich hier stehen wollte. Aber nein, das stimmt nicht. Ich muss hier stehen, nur so kann ich das Imperium vor dem Ende bewahren. Und ich muss Gott danken, dass …
    »Verzeih mir, Rufus … ich hoffe, ich störe dich nicht?«
    Die Stimme seines Bruders riss Scorpio jäh aus seinen Gedanken. Unbemerkt hatte Lucius den Saal betreten und stand nun neben ihm. Abgesehen vom fehlenden Bart hätte er Scorpios Zwilling sein können, denn Schmutz und Staub verdeckten die jüngeren Gesichtszüge.
    »Nein, nein, du störst ganz und gar nicht. Was ist, habt ihr die Leiche des Verräters schon gefunden?«
    »Ich denke schon. Die Gefangenen sagen alle das Gleiche, es ist Odoaker. Er ist also wirklich tot.«
    Rufus Scorpio atmete tief ein und sagte dann erleichtert: »Dann ist es überstanden. Jetzt weiß ich, dass wir wirklich gesiegt haben. Was ist mit den Goten? Sie haben großartig gekämpft, ohne ihren Beistand hätten wir nie im Leben gesiegt, aber wie verkraften sie, dass ihr König in der Schlacht gefallen ist?«
    »Theoderichs Tod hat sie schwer getroffen, allerdings habe ich Gerüchte gehört, dass die gotischen Fürsten sich schon um die Nachfolge streiten.«
    »Bei Gott, wenn bei den Goten Anarchie herrscht, wer wird dann verhindern, dass die Barbaren des Ostens über uns herfallen? Wie müssen um jeden Preis verhindern, dass sie sich gegenseitig zerfleischen, Lucius!«
    »Daran habe ich bereits gedacht. Claudius Decumatus ist mit der gesamten verbliebenen Kavallerie auf dem Weg nach Aquincum. Wenn alles gut geht, hast du in ein paar Tagen einen verlässlichen Magister Militium in Pannonien.«
    »Seine Aufgabe wird schwer sein. Möge Gott ihm beistehen.«
    »Die Aufgabe, die dir bevorsteht, ist noch viel schwerer, Rufus. Wenn jemand Gottes Hilfe verdient, dann du.«
    Dass das stimmte, wusste Rufus Scorpio nur zu gut. Er musste daran denken, dass das Imperium nur noch eine zerfallende Ruine war. In Gallien stand Syagrius als Statthalter auf verlorenem Posten, isoliert und umzingelt von Westgoten, Burgundern und Franken. Schon bald würden sie ihn zerdrücken, und niemand konnte es verhindern. In Illyrien saß Julius Nepos und beanspruchte den Kaiserthron, von Konstantinopel als legitimer Imperator anerkannt. Bajuwaren, Rugier und Alamannen warteten nur auf eine Gelegenheit, Noricum und Raetien zu verheeren. Und wenn Decumatus nicht schnellstens die herrscherlosen Goten zu loyalen Föderaten zusammenschweißte … wie lange würde es dauern, bis die Langobarden ihre Chance wahrnähmen, über die Donau in Pannonien einfielen und dann nach Italien weiterzögen? Die Welt, die Rufus Scorpio umgab, schien plötzlich nur noch aus unlösbaren, übermächtigen Problemen zu bestehen. Er fragte sich selbst, ob er nicht unter dieser gewaltigen Last zerquetscht würde, unvermeidbar und ruhmlos. Doch er ließ es sich nicht anmerken und sagte nach einer kurzen Pause ruhig:
    »Lucius, lass den Kopf von Odoakers Leiche abtrennen. Dann wirst
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