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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten
Autoren: Linda Castillo
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Kaffee und gebratenem Scrapple, einem traditionellen Amisch-Frühstück aus Maismehl und Schweinefleisch. Auf dem selbstgebauten Regal in der Nische im Flur stehen eine Kaminuhr und zwei Laternen. An den Holzpflöcken darunter hängen drei Strohhüte. Die Küche ist nur schwach beleuchtet, aber warm. Isaacs Frau Anna steht am gusseisernen Herd. Sie trägt die traditionelle
Kappe
aus Organdy und ein einfaches schwarzes Kleid. Als sie mich über die Schulter hinweg ansieht, suche ich den Blickkontakt mit ihr, doch sie wendet den Kopf gleich wieder ab. Vor zwanzig Jahren haben wir zusammen gespielt, doch heute Morgen bin ich für sie eine Fremde.
    Die Amischen sind eine enge Gemeinschaft, deren Grundfeste auf dem Glauben an Gott, harter Arbeit und Familienbanden basieren. Während achtzig Prozent der amischen Kinder im Alter von achtzehn Jahren der Gemeinde Gottes beitreten, bin ich eine der wenigen, die es nicht getan haben. Infolgedessen wurde ich unter
Bann
gestellt, also von gewissen sozialen Kontakten mit Amischen ausgeschlossen. Doch entgegen der allgemeinen Annahme ist diese Ausgrenzung keine Form von Bestrafung. In den meisten Fällen hat sie eine läuternde Wirkung. Liebevolle Strenge, wenn man so will. Doch mich hat das nicht zurück in den Schoß der Gemeinschaft gebracht. Weil ich also abtrünnig geworden bin, wollen viele Amische nichts mehr mit mir zu tun haben. Was ich akzeptiere, denn ich verstehe ihre kulturellen Hintergründe und habe nichts gegen sie.
    T. J. tritt hinter mir ins Haus. Wie immer respektvoll, nimmt er die Mütze ab.
    »Möchten Sie Kaffee oder Tee?«, fragt Isaac.
    Ich würde meine Waffe für einen heißen Kaffee hergeben, lehne aber ab. »Ich möchte Ihnen wegen letzter Nacht gern ein paar Fragen stellen.«
    Er deutet in die Küche. »Kommen Sie, setzen Sie sich in die Nähe des Herdes.«
    Auf dem Weg klacken unsere Stiefel dumpf auf dem Holzboden. Der Raum wird von einem rechteckigen Holztisch mit blau-weiß karierter Tischdecke dominiert, in dessen Mitte eine Glaslaterne steht, die unsere Gesichter in gelbes Licht taucht. Der Petroleumgeruch erinnert mich an das Zuhause meiner Kindheit, und einen Moment lang empfinde ich Wohlbehagen.
    Holz kratzt auf Holz, als wir drei die Stühle unterm Tisch hervorziehen und Platz nehmen. »Wir haben letzte Nacht einen Anruf wegen Ihrer Tiere bekommen«, beginne ich.
    »Ah, meine Milchkühe.« Er schüttelt selbstkritisch den Kopf, doch sein Gesichtsausdruck sagt mir, dass er weiß, ich komme nicht morgens um fünf Uhr hierher, um ihn wegen ein paar eigensinniger Kühe zurechtzuweisen. »Ich bin gerade dabei, den Zaun zu reparieren.«
    »Es geht nicht um die Kühe«, sage ich.
    Isaac sieht mich an und wartet.
    »Wir haben letzte Nacht auf Ihrem Feld die Leiche einer jungen Frau gefunden.«
    Mein Gott,
höre ich Anna auf der gegenüberliegenden Seite des Raums sagen.
    Ich sehe sie nicht an, sondern konzentriere mich auf Isaac. Seine Reaktion. Seine Körpersprache. Seinen Gesichtsausdruck.
    »Jemand ist gestorben?« Er reißt die Augen auf. »Auf meinem Feld? Wer?«
    »Wir haben sie noch nicht identifiziert.«
    Ich kann sehen, wie er versucht, die Information zu verarbeiten. »Hatte sie einen Unfall? Ist sie erfroren?«
    »Sie wurde ermordet.«
    Wie von unsichtbarer Hand gestoßen, zuckt er auf dem Stuhl zurück.
»Ach! Jammer.«
    Ich sehe hinüber zu seiner Frau. Sie begegnet meinem Blick jetzt ruhig, aber mit einem ängstlichen Ausdruck im Gesicht. »Hat einer von Ihnen gestern Nacht irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?«, frage ich.
    »Nein.« Er antwortet für sie beide.
    Fast hätte ich gelächelt. Die Amischen sind eine patriarchalische Gesellschaft. Es herrscht zwar nicht zwangsläufig Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, doch ihre unterschiedlichen Rollen sind klar definiert. Normalerweise macht mir das nichts aus, doch jetzt ärgert es mich. Bei Mord ist die stillschweigende Übereinkunft der Amischen außer Kraft gesetzt, und es ist meine Aufgabe, ihnen das zu verdeutlichen. Ich sehe Anna direkt an. »Anna?«
    Sie kommt näher, wischt sich die schrundigen Hände an der Schürze ab. Sie ist fast so alt wie ich und hübsch, mit großen haselnussbraunen Augen und Sommersprossen auf der Nase. Die Schlichtheit passt zu ihr.
    »Ist sie eine Amisch?«, fragt Anna auf Pennsylvaniadeutsch, dem Amisch-Dialekt.
    Ich kenne die Sprache, weil ich sie selbst einmal gebraucht habe, doch ich antworte auf Englisch. »Das wissen wir nicht«, antworte ich
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