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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten
Autoren: Linda Castillo
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sinken.
    »Hier im Gesicht sind Totenflecke«, sagt er, wobei seine Finger über dem blauroten Fleisch ihrer Wange schweben. Er blickt zu mir hoch. Seine Brille ist leicht beschlagen, und seine Augen wirken riesig hinter den dicken Gläsern. »Hat sie jemand bewegt?«, fragt er.
    Ich nicke, sage aber nicht wer, frage stattdessen: »Wie steht’s mit der Todesursache?«
    Er holt eine Stiftlampe aus der Jackentasche, zieht das Lid zurück und leuchtet in ihr Auge. »Keine punktförmigen Blutungen.«
    »Sie wurde also nicht erdrosselt.«
    »Richtig.« Vorsichtig schiebt er die Hand unter ihr Kinn und dreht ihren Kopf nach links. Ihr Mund geht auf, und ich sehe, dass zwei Vorderzähne knapp über dem Zahnfleisch abgebrochen sind. Er dreht den Kopf nach rechts, und die Wunde an ihrem Hals klafft offen wie ein blutiger Mund.
    »Man hat ihr die Kehle durchschnitten«, sagt der Arzt.
    »Irgendeine Vermutung, womit?«
    »Etwas Scharfem, ohne Zacken. Keine augenfälligen Rissspuren. Nicht geschlitzt, sonst wäre die Wunde länger und an den Rändern flacher. Es ist schwer zu sagen bei dem Licht.« Vorsichtig rollt er die Tote auf die Seite.
    Mein Blick wandert über ihren Körper. Ihre linke Schulter ist überzogen mit hellroten Schürfwunden, vielleicht auch Brandmalen. Ihre linke Pobacke ebenfalls. Beide Knie sowie die Fußrücken weisen Abschürfungen auf. Die Haut beider Knöchel ist auberginefarben. Das Fleisch selbst ist nicht verletzt, doch ihre Füße waren eindeutig zusammengebunden.
    Das Herz rutscht mir in die Hose beim Anblick des Bluts auf ihrem Bauch, knapp über dem Nabel. Halb verdeckt von der dunklen Körperflüssigkeit erkenne ich etwas, das mir bekannt vorkommt. Das ich schon tausendmal in meinen Albträumen gesehen habe. »Und das da?«
    »Großer Gott.« Die Stimme des Arztes zittert. »Sieht aus, als wäre etwas ins Fleisch geritzt.«
    »Schwer zu erkennen, was es ist.« Doch wir wissen es beide, da bin ich mir sicher. Nur will es keiner laut aussprechen.
    Der Arzt beugt sich weiter vor, ist kaum dreißig Zentimeter davon entfernt. »Sieht aus wie zwei Xe und drei l.s.«
    »Oder die römische Ziffer dreiundzwanzig«, ergänze ich.
    Er sieht mich an, und seine Augen drücken das gleiche Grauen, den gleichen Unglauben aus, der auch mir den Hals zuschnürt. »Vor sechzehn Jahren habe ich so etwas schon einmal gesehen«, flüstert er.
    Ich starre die blutigen Einschnitte auf dem Körper der jungen Frau an und bin so fassungslos, dass ich zittere.
    Kurz darauf richtet sich Doc Coblentz ein wenig auf. Kopfschüttelnd deutet er auf die Verletzungen auf ihrem Gesäß, die abgebrochenen Fingernägel und Zähne. »Jemand hat ihr fürchterlich zugesetzt.«
    Wut und eine Angst, die ich nicht wahrhaben will, steigen in mir hoch. »Wurde sie sexuell missbraucht?«
    Mein Herz pocht, als er mit der Stiftlampe auf ihr Schambein leuchtet. Ich sehe Blut auf der Innenseite ihrer Oberschenkel und schaudere innerlich.
    »Sieht so aus.« Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß mehr, wenn ich sie in der Leichenhalle untersucht habe. Hoffentlich hat der Scheißkerl seine DNA zurückgelassen.«
    Der Knoten in meinem Bauch sagt mir, dass es so einfach nicht sein wird.
    Ich blicke wieder auf die Tote und frage mich, welches Monster einer jungen Frau, die das Leben noch vor sich hatte, so etwas antun konnte. Und auch, wie viele Menschenleben durch ihren Tod zerstört werden. Mein Kaffee schmeckt jetzt bitter. Mir ist nicht mehr kalt. Ich bin zutiefst erschüttert und aufgebracht von der Brutalität dieser Tat. Schlimmer noch, ich habe Angst. »Tun Sie mir einen Gefallen und stecken ihre Hände in Tüten?«
    »Kein Problem.«
    »Wie schnell können Sie eine Autopsie vornehmen?«
    Mit den Händen auf die Knie gestützt, erhebt sich Doc Coblentz. »Ich kann ein paar Termine verlegen und sofort anfangen.«
    Inmitten von Wind und Kälte kämpfen wir vergeblich gegen die Vorstellung an, was die Frau vor ihrem Tod alles durchgemacht haben muss.
    »Er hat sie irgendwo anders umgebracht.« Ich blicke auf die Schleifspuren. »Keine Anzeichen eines Kampfes. Hätte er ihr hier die Kehle durchgeschnitten, gäbe es noch mehr Blut.«
    Der Doktor nickt. »Blutungen hören auf, sobald das Herz stehen bleibt. Vermutlich war sie schon tot, als sie hier abgeladen wurde. Das Blut ist aller Wahrscheinlichkeit nach nur der Rest aus der Halswunde.«
    Ich denke an die Menschen, die sie geliebt haben: Eltern. Ehemann. Kinder. Es macht mich traurig. »Das war kein
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