Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
die Wonne, in Horden zu prügeln, die Gier, in Haufen zu plündern.
    Wieder steht Ritt vor der Synagoge, rüttelt am Tor, schaut zu, wie seine Kameraden das massive Eisengitter aufsprengen, in das Haus drängen, die silbernen Leuchter beiseite stoßen, die Bundeslade umwerfen – und wieder steht ein Mann vor ihnen, einsam, allein, würdig: Kommerzienrat Lessing, Wohltäter und Ehrenbürger der Stadt, der den Brandstiftern entgegentritt, die vor dem weißhaarigen, gebeugten Mann zurückweichen.
    Wieder sieht er den Juden, den Hauptgläubiger, den Mann, der ihn zum Konkurs zwang – und wieder erlebt er, wie er die Hand hebt, Lessing niederschlägt, die anderen heranholt, die den Röchelnden zerschlagen, zertreten, zerfetzen.
    Fast gewaltsam stand der alte Ritt auf und lief mit schweren, unruhigen Schritten durch den Raum. Er wandte seinen Blick vom Kamin ab, von den Flammen weg, aber es half nichts – das Blut rinnt, die Synagoge brennt, die Flasche kreist, die Horde brüllt, der Jude stirbt.
    Ritt warf die Flasche in das Feuer. Das Glas zersprang, die Flüssigkeit zischte, der Alkohol nährte die Flamme. Alles Unfug, überlegte er, keiner denkt mehr daran, niemand spricht mehr davon, nur: Was ist aus Lessings Sohn geworden, Martins Mitschüler, der nach Amerika vorausflog, um für seinen Vater Quartier zu machen? Der Alte brauchte es nicht mehr – sein Quartier lag seit der Kristallnacht unter der Erde.
    Wäre diese bohrende, würgende Angst nicht, hätte Friedrich Wilhelm Ritt seine Weltanschauung weggeworfen wie zerrissene Socken. So aber konnte er nicht. Er war verdammt, bei der Hakenkreuzfahne zu bleiben, deren Ende sein Ende sein mußte; und so haßte er alle, die nicht ihr Leben einsetzten, um dieses Ende hinauszuschieben, so hoffte er wider besseres Wissen auf Wunderwaffen, obwohl er aus seinem eigenen Betrieb wußte, wie es wirklich aussah.
    Ritt hatte alles falsch gemacht, seitdem seine erste Frau Germaine von ihm gegangen war. Die zweite Ehe: ein zweiter Fehlschlag. Denn die Jahre des Kampfes, der Sieg, der Aufstieg – ein Leben, wie er es sich gewünscht hatte und dessen Rechnung er doch nicht bezahlen wollte.
    Martin, seinen einzigen Sohn, hatte er in ein Internat gesteckt und fast nie gesehen. Er wußte, daß der Junge ihn nicht mochte; und im Laufe der Jahre wurde ihm Martin auch innerlich so fremd, wie er äußerlich von ihm verschieden war.
    Als der Junge sich an der Front auszeichnete, hätte er ihn gern bei seinen Parteifreunden herumgereicht, aber Martin wollte nicht. Jetzt gestand sich Friedrich Wilhelm Ritt ein, daß er von seinem Sohn seit fast zwei Jahren nichts mehr gehört hatte. Der Junge mied ihn; es war dem Alten eine Zeitlang ganz recht gewesen, wenn es sich auch nicht gehörte und teilnehmende Fragen nach Martin oft recht peinlich wurden.
    Endlich kam der Mann von der Gauleitung; es war Silbermann, Leiter der Rechtsabteilung, der unter seinem Namen litt, obwohl er Reinarier war. Er hatte eine seltsame Kopfform, oben dick, unten dünn; sein Schädel sah aus wie eine umgedrehte Birne an einem viel zu dünnen Stiel.
    »Ich soll dich vom Gauleiter herzlich grüßen«, sagte der Hoheitsträger schon von weitem.
    »Danke«, erwiderte Ritt, »was gibt's Neues?«
    »Nichts Besonderes.«
    »Warum kommst du? – Kognak, Wein, Sekt, Zigarre?«
    »Nicht soviel auf einmal.« Silbermann lachte gezwungen. »Aber wenn du vielleicht etwas zu essen hättest …« Er trug die senffarbene Uniform, aber er trug sie nicht mehr so stolz, jedenfalls lieber nachts als am Tage, denn er deutete die Blicke vieler Passanten richtig. Auch er konnte wegen der verdammten Judentransporte nicht abspringen, die er zur Frontbewährung beim Sicherheitsdienst geleitet hatte, woran er sich jetzt ungern erinnerte.
    Sie setzten sich an den Kamin, tranken.
    »Also, was ist los?« fragte Ritt. Er spürte, daß Silbermann mit schlechter Nachricht kam.
    »Es handelt sich um deinen Sohn.«
    »Martin?«
    »Ja.«
    »… gefallen?«
    »Nein.«
    »Verwundet?«
    »Kerngesund – und doch fast tot –, falls wir nichts unternehmen, Kamerad Ritt«, setzte Silbermann hastig hinzu. »Ich soll dir persönlich vom Gauleiter ausrichten, daß er Verständnis für dich hat – und überhaupt nichts an dir hängenbleibt.«
    »Was heißt das?« fragte der alte Ritt barsch.
    Er starrte in den Kamin, hob mit mechanischer Geste das Glas an den Mund, trank den Rest auf einmal aus, spürte den Schnaps an der Magenwand, Gastritis, dachte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher