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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Autoren: Stefan Zweig
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Kleinbürgertum; so fehlte ihnen völlig die Gedrücktheit und andererseits die geschmeidig vordrängende Ungeduld der galizischen, der östlichen Juden. Stark und kräftig durch das Leben auf dem Lande, schritten sie sicher und ruhig ihren Weg wie die Bauern ihrer Heimat über das Feld. Früh vom orthodox Religiösen emanzipiert, waren sie leidenschaftliche Anhänger der Zeitreligion des ›Fortschritts‹ und stellten in der politischen Ära des Liberalismus die geachtetsten Abgeordneten im Parlament. Wenn sie aus ihrer Heimat nach Wien übersiedelten, paßten sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit der höheren Kultursphäre an, und ihr persönlicher Aufstieg verband sich organisch dem allgemeinen Aufschwung der Zeit. Auch in dieser Form des Übergangs war unsere Familie durchaus typisch. Mein Großvater väterlicherseits hatte Manufakturwaren vertrieben. Dann begann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die industrielle Konjunktur in Österreich. Die aus England importierten mechanischen Webstühle und Spinnmaschinen brachten durch Rationalisierung eine ungeheure Verbilligung gegenüber der altgeübten Handweberei, und mit ihrer kommerziellen Beobachtungsgabe, ihrem internationalen Überblick waren es die jüdischen Kaufleute, die als erste in Österreich die Notwendigkeit und Ergiebigkeit einer Umstellung auf industrielle Produktion erkannten. Sie gründeten mit meist geringem Kapital jene rasch improvisierten, zunächst nur mit Wasserkraft betriebenen Fabriken, die sich allmählich zur mächtigen, ganz Österreich und den Balkan beherrschenden böhmischen Textilindustrie erweiterten. Während also mein Großvater als typischer Vertreter der früheren Epoche nur dem Zwischenhandel mit Fertigprodukten gedient, ging mein Vater schon entschlossen hinüber in die neue Zeit, indem er in Nordböhmen in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr eine kleine Weberei begründete, die er dann im Laufe der Jahre langsam und vorsichtig zu einem stattlichen Unternehmen ausbaute.
    Solche vorsichtige Art der Erweiterung trotz einer verlockend günstigen Konjunktur lag durchaus im Sinne der Zeit. Sie entsprach außerdem noch besonders der zurückhaltenden und durchaus ungierigen Natur meines Vaters. Er hatte das Credo seiner Epoche ›Safety first‹ in sich aufgenommen; es war ihm wesentlicher, ein ›solides‹ – auch dies ein Lieblingswort jener Zeit – Unternehmen mit eigener Kapitalkraft zu besitzen, als es durch Bankkredite oder Hypotheken ins Großdimensionale auszubauen. Daß zeitlebens nie jemand seinen Namen auf einem Schuldschein, einem Wechsel gesehen hatte und er nur immer auf der Habenseite seiner Bank – selbstverständlich der solidesten, der Rothschildbank, der Kreditanstalt – gestanden, war sein einziger Lebensstolz. Jeglicher Verdienst mit auch nur dem leisesten Schatten eines Risikos war ihm zuwider, und durch all seine Jahre beteiligte er sich niemals an einem fremden Geschäft. Wenn er dennoch allmählich reich und immer reicher wurde, hatte er dies keineswegs verwegenen Spekulationen oder besonders weitsichtigen Operationen zu danken, sondern der Anpassung an die allgemeine Methode jener vorsichtigen Zeit, immer nur einen bescheidenen Teil des Einkommens zu verbrauchen und demzufolge von Jahr zu Jahr einen immer beträchtlicheren Betrag dem Kapital zuzulegen. Wie die meisten seiner Generation hätte mein Vater jemanden schon als bedenklichen Verschwender betrachtet, der unbesorgt die Hälfte seiner Einkünfte aufzehrte, ohne – auch dies ein ständiges Wort aus jenem Zeitalter der Sicherheit – ›an die Zukunft zu denken‹. Dank diesem ständigen Zurücklegen der Gewinne bedeutete in jener Epoche steigender Prosperität, wo überdies der Staat nicht daran dachte, auch von den stattlichsten Einkommen mehr als ein paar Prozent an Steuern abzuknappen und andererseits die Staats- und Industriewerte hohe Verzinsung brachten, für den Vermögenden das Immerreicher-Werden eigentlich nur eine passive Leistung. Und sie lohnte sich; noch wurde nicht wie in den Zeiten der Inflation der Sparsame bestohlen, der Solide geprellt, und gerade die Geduldigsten, die Nichtspekulanten hatten den besten Gewinn. Dank dieser Anpassung an das allgemeine System seiner Zeit konnte mein Vater schon in seinem fünfzigsten Jahre auch nach internationalen Begriffen als sehr vermögender Mann gelten. Aber nur sehr zögernd folgte die Lebenshaltung unserer Familie dem immer rascheren Anstieg des Vermögens nach. Man legte
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