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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Autoren: Stefan Zweig
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Justiz linder und humaner gehandhabt, und selbst das Problem der Probleme, die Armut der großen Massen, schien nicht mehr unüberwindlich. Immer weiteren Kreisen gewährte man das Wahlrecht und damit die Möglichkeit, legal ihre Interessen zu verteidigen, Soziologen und Professoren wetteiferten, die Lebenshaltung des Proletariats gesünder und sogar glücklicher zu gestalten – was Wunder darum, wenn dieses Jahrhundert sich an seiner eigenen Leistung sonnte und jedes beendete Jahrzehnt nur als die Vorstufe eines besseren empfand? An barbarische Rückfälle, wie Kriege zwischen den Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt sein.
    Es ist billig für uns heute, die wir das Wort ›Sicherheit‹ längst als ein Phantom aus unserem Vokabular gestrichen haben, den optimistischen Wahn jener idealistisch verblendeten Generation zu belächeln, der technische Fortschritt der Menschheit müsse unbedingterweise einen gleich rapiden moralischen Aufstieg zur Folge haben. Wir, die wir im neuen Jahrhundert gelernt haben, von keinem Ausbruch kollektiver Bestialität uns mehr überraschen zu lassen, wir, die wir von jedem kommenden Tag noch Ruchloseres erwarteten als von dem vergangenen, sind bedeutend skeptischer hinsichtlich einer moralischen Erziehbarkeit der Menschen. Wir mußten Freud recht geben, wenn er in unserer Kultur, unserer Zivilisation nur eine dünne Schicht sah, die jeden Augenblick von den destruktiven Kräften der Unterwelt durchstoßen werden kann, wir haben allmählich uns gewöhnen müssen, ohne Boden unter unseren Füßen zu leben, ohne Recht, ohne Freiheit, ohne Sicherheit. Längst haben wir für unsere eigene Existenz der Religion unserer Väter, ihrem Glauben an einen raschen und andauernden Aufstieg der Humanität abgesagt; banal scheint uns grausam Belehrten jener voreilige Optimismus angesichts einer Katastrophe, die mit einem einzigen Stoß uns um tausend Jahre humaner Bemühungen zurückgeworfen hat. Aber wenn auch nur Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn, dem unsere Väter dienten, menschlicher und fruchtbarer als die Parolen von heute. Und etwas in mir kann sich geheimnisvollerweise trotz aller Erkenntnis und Enttäuschung nicht ganz von ihm loslösen. Was ein Mensch in seiner Kindheit aus der Luft der Zeit in sein Blut genommen, bleibt unausscheidbar. Und trotz allem und allem, was jeder Tag mir in die Ohren schmettert, was ich selbst und unzählige Schicksalsgenossen an Erniedrigung und Prüfungen erfahren haben, ich vermag den Glauben meiner Jugend nicht ganz zu verleugnen, daß es wieder einmal aufwärts gehen wird trotz allem und allem. Selbst aus dem Abgrund des Grauens, in dem wir heute halb blind herumtasten mit verstörter und zerbrochener Seele, blicke ich immer wieder auf zu jenen alten Sternbildern, die über meiner Kindheit glänzten, und tröste mich mit dem ererbten Vertrauen, daß dieser Rückfall dereinst nur als ein Intervall erscheinen wird in dem ewigen Rhythmus des Voran und Voran.
    Heute, da das große Gewitter sie längst zerschmettert hat, wissen wir endgültig, daß jene Welt der Sicherheit ein Traumschloß gewesen. Aber doch, meine Eltern haben darin gewohnt wie in einem steinernen Haus. Kein einziges Mal ist ein Sturm oder eine scharfe Zugluft in ihre warme, behagliche Existenz eingebrochen; freilich hatten sie noch einen besonderen Windschutz: sie waren vermögende Leute, die allmählich reich und sogar sehr reich wurden, und das polsterte in jenen Zeiten verläßlich Fenster und Wand. Ihre Lebensform scheint mir dermaßen typisch für das sogenannte ›gute jüdische Bürgertum‹, das der Wiener Kultur so wesentliche Werte gegeben hat und zum Dank dafür völlig ausgerottet wurde, daß ich mit dem Bericht ihres gemächlichen und lautlosen Daseins eigentlich etwas Unpersönliches erzähle: so wie meine Eltern haben zehntausend oder zwanzigtausend Familien in Wien gelebt in jenem Jahrhundert der gesicherten Werte.
    Die Familie meines Vaters stammte aus Mähren. In kleinen ländlichen Orten lebten dort die jüdischen Gemeinden in bestem Einvernehmen mit der Bauernschaft und dem
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