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Die Weiße Rose

Die Weiße Rose

Titel: Die Weiße Rose
Autoren: Inge Scholl
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gehalten!«
    »Das bestreitet ja niemand. Aber fragt nicht, wie! Die Kriegsindustrie hat er angekurbelt, Kasernen werden gebaut … Wißt ihr, wo das endet? … Er hätte es auch auf dem Wege über die Friedensindustrie schaffen können, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen – in der Diktatur ist das leicht genug zu erreichen. Wir sind doch kein Vieh, das mit einer vollen Futterkrippe zufrieden ist. Die materielle Sicherheit allein wird nie genügen, uns glücklich zu machen. Wir sind doch Menschen, die ihre freie Meinung, ihren eigenen Glauben haben. Eine Regierung, die an diese Dinge rührt, hat keinen Funken Ehrfurcht mehr vor dem Menschen. Das aber ist das erste, was wir von ihr verlangen müssen.«
    Auf einem weiten Frühlingsspaziergang hatte sich dieses Gespräch zwischen dem Vater und uns entsponnen. Und wir hatten uns wieder einmal alle Fragen und Zweifel gründlich vom Herzen geredet.
    »Ich möchte nur, daß ihr gerad und frei durchs Leben geht, wenn es auch schwer ist«, hatte der Vater noch gesagt.
    Plötzlich waren wir Freunde geworden, der Vater und wir. Und keiner von uns hätte daran gedacht, daß er doch viel älter war. Wir spürten mit Genugtuung, daß die Welt weiter geworden war. Zugleich begriffen wir, daß diese Weite auch Gefahr und Wagnis in sich trug.
     
    Die Familie wurde uns nun zu einer kleinen, festen Insel in dem unverständlichen und immer fremder werdenden Getriebe.
    Aber daneben gab es noch etwas anderes für Hans und meinen jüngsten Bruder Werner, was in diesen Jahren zwischen vierzehn und achtzehn ihr Leben bestimmte und mit einem unbeschreiblichen Elan erfüllte: die ›jungenschaft‹, eine kleine Gruppe von Freunden. Es gab sie in verschiedenen Städten in Deutschland, vor allem dort, wo sich noch kulturelles Leben regte. Sie sammelte die letzten Reste der zersprengten Bündischen Jugend und war eigentlich schon längst von der Gestapo verboten. Um weiter existieren zu können, hatte sich die ›jungenschaft‹ dem Jungvolk angeschlossen und war in ihm untergetaucht. Das konnte nicht lange gutgehen, denn die ›jungenschaft‹ hatte ihren eigenen, sehr eindrucksvollen Stil, der sich bewußt in allem von der Hitlerjugend unterschied. Die Mitglieder der ›jungenschaft‹ erkannten sich an der Art, wie sie sich kleideten, sie kannten sich an ihren Liedern, ja an ihrer Sprache. Für diese Jungen war das Leben ein großes Abenteuer, eine Expedition in eine unbekannte, verlockende Welt. Die Gruppe ging übers Wochenende auf Fahrt und pflegte, auch bei grimmiger Kälte, in einer Kothe zu wohnen, einem Zelt nach dem Muster der Lappen im hohen Norden. Wenn sie um das Feuer saßen, lasen sie einander vor, oder sie sangen und begleiteten ihren Chor mit der Gitarre, dem Banjo und der Balalaika. Sie sammelten die Lieder aller Völker und dichteten und komponierten ihre eigenen feierlichen Gesänge und lustigen Schlager dazu. Sie malten und photographierten, sie schrieben und dichteten, und daraus entstanden ihre herrlichen Fahrtenbücher und Zeitschriften, die ihnen niemand nachahmen konnte. Sie stiegen im Winter auf die abgelegensten Almen und machten die verwegensten Skiabfahrten; sie liebten es, in der Morgenfrühe Florett zu fechten; sie trugen Bücher mit sich herum, die ihnen wichtig waren und die ihnen neue Dimensionen der Welt und des eigenen Innern erschlossen. Rilke zum Beispiel, Stefan George, Lao-tse, Hermann Hesse, die Heldenfibel von tusk, dem in der ›jungenschaft‹ eine führende Rolle zukam (und der inzwischen ins Ausland hatte fliehen müssen). Sie waren ernst und verschwiegen, sie hatten ihren eigenen Humor und ganze Eimer voll Witz und Skepsis und Spott. Sie konnten wild und ausgelassen durch die Wälder jagen, sie warfen sich am frühen Morgen in eiskalte Flüsse; sie konnten stundenlang still auf dem Bauch liegen, um Wild oder Vögel zu beobachten. Sie saßen genauso still und mit angehaltenem Atem in Konzerten, um die Musik zu entdecken. Man sah sie im Kino, wenn einmal ein schöner Film auftauchte, oder im Theater, wenn ein Stück die Gemüter bewegte. Sie gingen auf Zehenspitzen in den Museen umher; sie waren mit dem Münster und seinen verborgensten Schönheiten vertraut. Sie liebten in besonderer Weise die blauen Pferde von Franz Marc, die glühenden Kornfelder und Sonnen von van Gogh und die exotische Welt Gauguins. Aber mit all dem ist eigentlich gar nichts Präzises gesagt. Vielleicht soll man auch nicht viel sagen, weil sie selbst so verschwiegen waren
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