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Die Weiße Rose

Die Weiße Rose

Titel: Die Weiße Rose
Autoren: Inge Scholl
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eingetreten war.
    Hans war schon vor längerer Zeit zum Fähnleinführer befördert worden. Er hatte sich mit seinen Jungen eine prachtvolle Fahne mit einem großen Sagentier genäht. Die Fahne war etwas Besonderes; sie war auf den Führer geweiht, und die Jungen hatten ihr Treue gelobt, weil sie das Symbol ihrer Gemeinschaft war. Aber eines Abends, als sie mit der Fahne angetreten waren, zum Appell vor einem höheren Führer, war eine unerhörte Geschichte passiert. Der Führer hatte plötzlich unvermittelt den kleinen Fahnenträger, einen fröhlichen zwölfjährigen Jungen, aufgefordert, die Fahne abzugeben.
    »Ihr braucht keine besondere Fahne. Haltet euch an die, die für alle vorgeschrieben ist.«
    Hans war tief betroffen. Seit wann das? Wußte der Stammführer nicht, was gerade diese Fahne für seine Gruppe bedeutete? War sie nicht mehr als ein Tuch, das man nach Belieben wechseln konnte?
    Noch einmal forderte der andere den Jungen auf, die Fahne herauszugeben. Der blieb starr stehen, und Hans wußte, was in ihm vorging und daß er es nicht tun würde. Als der höhere Führer den Kleinen zum drittenmal mit drohender Stimme aufforderte, sah Hans, daß die Fahne ein wenig bebte. Da konnte er nicht länger an sich halten. Er trat still aus der Reihe heraus und gab diesem Führer eine Ohrfeige.
    Von da an war er nicht mehr Fähnleinführer.
     
    Der Funke quälenden Zweifels, der in Hans erglommen war, sprang auf uns alle über.
    In jenen Tagen hörten wir auch eine Geschichte von einem jungen Lehrer, der auf rätselhafte Weise verschwunden war. Er war vor eine SA -Gruppe gestellt worden, und alle mußten an ihm vorbeiziehen und ihm ins Gesicht spucken – auf Befehl. Danach hatte den jungen Lehrer niemand mehr gesehen. Er war in einem Konzentrationslager verschwunden.
    »Aber was hat er denn getan?« fragten wir seine Mutter mit angehaltenem Atem. »Nichts, nichts«, rief die Frau verzweifelt. »Er war eben kein Nationalsozialist, er konnte halt da nicht mitmachen,
das
war sein Verbrechen.«
    Mein Gott! Wie da der Zweifel, der bisher nur ein Funke war, erst zu tiefer Trauer wurde und dann zu einer Flamme der Empörung aufloderte. In uns begann eine gläubige, reine Welt zu zerbrechen, Stück um Stück. Was hatte man in Wirklichkeit aus dem Vaterland gemacht? Nicht Freiheit, nicht blühendes Leben, nicht Gedeihen und Glück jedes Menschen, der darin lebte. Nein, eine Klammer um die andere hatte man um Deutschland gelegt, bis allmählich alles wie in einem großen Kerker gefangen saß.
    »Was, Vater, ist ein Konzentrationslager?«
    Er berichtete uns, was er wußte und ahnte, und fügte hinzu: »Das ist Krieg. Krieg mitten im tiefsten Frieden und im eigenen Volk. Krieg gegen den wehrlosen, einzelnen Menschen, Krieg gegen das Glück und die Freiheit seiner Kinder. Es ist ein furchtbares Verbrechen.«
    War aber die quälende Enttäuschung vielleicht nur ein böser Traum, von dem wir am andern Morgen erwachen würden? In unseren Herzen entbrannte ein heftiger Kampf. Wir versuchten, unsere alten Ideale gegen alles, was wir erlebt und gehört hatten, zu verteidigen.
    »Weiß denn der Führer etwas von den Konzentrationslagern?«
    »Sollte er es nicht wissen, da sie nun schon Jahre existieren und seine nächsten Freunde sie eingerichtet haben? Und warum hat er nicht seine Macht benützt, um sie sofort abzuschaffen? Warum ist es jenen, die daraus entlassen wurden, bei Androhung härtester Strafen untersagt, etwas von ihren Erlebnissen zu erzählen?«
    In uns erwachte ein Gefühl, als lebten wir in einem einst schönen und reinen Haus, in dessen Keller hinter verschlossenen Türen furchtbare, böse, unheimliche Dinge geschehen. Und wie der Zweifel langsam von uns Besitz ergriffen hatte, so erwachte nun in uns das Grauen, die Angst, der erste Keim einer grenzenlosen Unsicherheit.
    »Wie aber war es möglich, daß in unserem Volke so etwas an die Regierung kommen konnte?«
    »In einer Zeit großer Not«, so erklärte uns der Vater, »kommt allerlei nach oben. Schaut, welche Zeiten wir durchzustehen hatten: zuerst den Krieg, dann die Schwierigkeiten der Nachkriegszeit, Inflation und große Armut. Darauf Arbeitslosigkeit. Wenn dem Menschen erst die nackte Existenz untergraben ist und er die Zukunft nur noch wie eine graue, undurchdringliche Wand sieht – dann hört er auf Versprechungen und Verlockungen, ohne zu fragen, wer sie macht.«
    »Aber Hitler hat doch sein Versprechen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen,
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