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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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gegeben hatte, und stellte sich als Autor vor. Das war, wie sich herausstellte, ganz einfach. Er musste nichts Besonderes sagen oder beweisen, denn ein Autor kann bekanntlich nichts außer schreiben, und schreiben kann jeder. Man muss auch nichts Spezifisches wissen oder können oder über sich sagen, es braucht außer ein wenig Lebenserfahrung keine nennenswerte Ausbildung, man muss kein Diplom vorweisen. Vorzulegen ist allein der Text. Die abschließende Bewertung überlässt man den Kritikern und Lesern, denn je weniger man über seine Tätigkeit spricht, desto strahlender der Nimbus. Literatur interessiere ihn nicht, erklärte Henry, er wolle nur schreiben. Das passte haargenau.
    Der Roman verkaufte sich phantastisch. Als das erste Geld kam, zogen Martha und er in eine größere, warme Wohnung und heirateten. Es kam immer mehr Geld, Berge davon. Geld löste bei Martha keinerlei Kaufreflex oder Verschwendungsimpulse aus. Sie schrieb unbeeindruckt weiter, während Henry shoppen ging. Er kaufte sich teure Anzüge, kostbare Momente mit schönen Frauen und ein italienisches Auto. Moreany beteiligte Henry an den Gewinnen, die nun wie Regen über das Haus Moreany hereinbrachen. Henry fühlte sich wie ein Gangster, dem das perfekte Verbrechen gelungen war, und fuhr Martha im Maserati durch ganz Europa bis nach Portugal. Sie stiegen in guten Hotels ab, ansonsten änderte sich wenig. Martha schrieb weiterhin nachts, Henry spielte Tennis und kümmerte sich um alles andere. Er kaufte ein, schrieb Einkaufszettel und lernte asiatisch kochen.
    Jeden Nachmittag las er die neuen Seiten. Niemand außer ihm bekam eine Zeile zu Gesicht, bevor das Buch nicht fertig war. Er sagte nur, ob es ihm gefiel oder nicht. Meistens gefiel es ihm. Schließlich brachte er das fertige Manuskript persönlich zu Moreany. Betty und Moreany lasen dann simultan in dessen holzgetäfeltem Büro, während Henry im Nebenzimmer auf dem Sofa lag und Isnogud der Großwesir las, nebenbei bemerkt die besten Comics der Welt.
    Ãœber Stunden herrschte absolute Stille im Verlagshaus, bis beide zu Ende gelesen hatten. Dann holte Moreany den Vertriebsleiter zu sich. »Wir haben ein Buch!«, rief er. Acht Wochen später begann die Pressekampagne. Nur ausgewählte Journalisten durften ein Leseexemplar in Moreanys Büro besichtigen. Sie mussten Dokumente über die Geheimhaltung unterschreiben, denn sie sollten den Roman zwar groß in den Medien ankündigen, gleichzeitig die Öffentlichkeit aber mit Informationsentzug quälen.
    Martha begleitete Henry nie zu öffentlichen Auftritten. Wenn er auf Buchmessen oder zu Lesungen ging, begleitete Betty ihn. Viele hielten sie für seine Frau, was vom reinen Augenschein auch völlig passend war, denn sie sahen aus wie ein Traumpaar.
    Ãœberall wurde Henry mit Applaus empfangen, angelächelt, herumgeführt und beglückwünscht. Er sah dabei nicht besonders glücklich aus, denn er genoss das Bad in der Menge nicht. Das wiederum verstärkte das allgemeine Entzücken über seine Bescheidenheit, besonders bei den Frauen. Henrys schüchternes Understatement war reine Vorsicht, denn er vergaß niemals, dass er kein Schriftsteller, sondern nur ein Hochstapler war, ein Frosch im Habitat der Schlange.
    Außerdem fiel ihm schwer, sich all die freundlichen Gesichter und neuen Namen zu merken. Wo er stehen blieb, bildeten sich Menschenklumpen. Kameras blitzten, ohne Unterlass saugten Blicke an ihm, ständig wurde ihm etwas gezeigt, was ihn nicht interessierte, oder etwas erklärt, was er nicht richtig verstand. Er gab kurze Interviews, Gespräche über seine Arbeitsweise lehnte er ab. Das Gefühl der Unwirklichkeit verstärkte sich, die Realität verschwamm wie ein Aquarell im Regen – erst in Umrissen, dann im Ganzen. Martha hatte ihn davor gewarnt, Erfolg sei nur ein Schatten, der mit dem Stand der Sonne wandert. Irgendwann, befürchtete Henry, wird die Sonne untergehen, und man wird feststellen, dass es mich nicht gibt.
    Von seinen Kritikern lernte Henry, wie sein Werk zu verstehen war. Dass die Romane gut waren, wusste er selbst, schließlich hatte er sie entdeckt. Aber wie gut sie waren und warum genau, das überraschte ihn doch selbst. Die vielen armen Künstler taten ihm leid, die erst entdeckt werden, nachdem sie bereits an Hungerödemen krepiert sind. Gerne hätte er Martha einige der
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