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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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vergaß, dass er es abgeschickt hatte, und hätte er gewusst, wie verschwindend gering die Erfolgschancen eines unverlangt eingesandten Manuskriptes sind, er hätte nicht in das Porto investiert. Doch oft stellt sich ja Unwissenheit als wahrer Segen heraus.
    In der Zwischenzeit arbeitete Henry auf dem Fruchtmarkt. Er stand um zwei Uhr morgens auf, kam gegen Mittag todmüde und nach Gemüse riechend nach Hause, um sich an den Herd zu stellen und etwas für Martha zu kochen.
    Martha stellte Henry ihren Eltern vor. Sie hatte lang gezögert, Henry verstand, warum, als er den Vater kennenlernte. Bei dem Vorstellungsgespräch beäugte Marthas Vater, ein frühpensionierter Feuerwehrmann, Henry die ganze Zeit von seinem veloursbezogenen Sessel aus mit schwelender Bösartigkeit. Das Rheuma zernagte seine Gelenke und hatte schon seinen Daumen gegessen. Ihre Mutter war Kassiererin an einer Supermarktkasse, eine fröhliche Frau von warmer Empfindsamkeit, eine Mutter, wie man sie sich wünscht.
    Man trank Kaffee mit Kardamom in der Polsterlandschaft des Wohnzimmers, plauderte über Belanglosigkeiten, Henry sah gelbe Vögel in einem Käfig auf der Anrichte, die auf den Tod warteten. Der Stolz des Vaters war seine Sammlung historischer Feuerwehrhelme, die in einer beleuchteten Vitrine der Schrankwand standen. Er erläuterte Henry jedes Stück, nach Datum, Herkunft und Funktion, dabei forschten seine Augen nach Anzeichen von Müdigkeit und Desinteresse bei Henry. Doch der ertrug die Prozedur mit stoischer Ausdauer und stellte sogar interessierte Zwischenfragen.
    Ein kalter Winter kam. Henry besorgte eine neue Tür, zwei fabelhafte Heizdecken und dichtete die Fenster ab. Die Tür hatte er in einem Altholz-Container gesichtet. Er kletterte bei dichtem Schneetreiben in den Container und barg die schwere Tür, schulterte sie und schleppte sie wie eine Blattschneideameise auf dem Rücken nach Hause. Er hobelte noch ein wenig daran herum, setzte unten ein Stück an und passte sie ein. Jetzt zog es nicht mehr kalt herein. Martha war entzückt. Henrys handwerkliche Fähigkeit erotisierte die Frauen schon immer. Heimwerkerarbeit oder Hobbys vertreiben die Dämonen der Langeweile und schlechte Gedanken. Er reparierte Dinge einfach gern, nicht um zu beeindrucken, sondern weil es Spaß machte und weil es sonst nichts Besseres zu tun gab.
    Im folgenden Frühjahr tötete Henry seinen Schwiegervater. Er schenkte ihm einen historischen Helm der Wiener Feuerwehr, nebenbei bemerkt der ältesten Berufsfeuerwehr der Welt. Freude und Überraschung des alten Sammlers waren derart groß, dass sein Aneurysma platzte und er tot umfiel. Henry war der perfekte Tyrannenmord gelungen, fachmännisch ausgeführt ohne Wissen und Absicht. Er hatte infolgedessen auch kein schlechtes Gewissen, denn dieses heimtückische Blutgefäß in seinem Gehirn hätte auch beim Scheißen platzen können, wie Henry fand. Alle freuten sich, und keiner dachte etwas Böses.
    Sämtliche Helme verschwanden mit dem toten Feuerwehrmann in der Erde. Marthas Mutter blühte auf, verschenkte die gelben Vögel und wanderte ein halbes Jahr später mit einem amerikanischen Geschäftsmann nach Wisconsin aus, wo sie von einem Blitz getroffen wurde. Von da an schrieb sie nur noch linkshändig lange Briefe über ihr neues Leben in Amerika.
    Dann kam Moreanys Anruf. Henry fuhr mit dem Fahrrad zum Verlag. Hätte er geahnt, welche verhängnisvolle Entwicklung die ganze Sache einmal nehmen würde, er wäre vielleicht nicht gefahren.
    * * *
    In der Lobby wartete Betty auf ihn. Sie stiegen zusammen in den Lift und fuhren in die sechste Etage. Ihr Maiglöckchenparfüm füllte den Fahrstuhl, sie sah, dass er Handwerkerhände hatte, er entdeckte ein kleines Loch in ihrem Ohrläppchen und das Sternbild des Großen Wagens aus lieblichen Sommersprossen an ihrem Hals. Auf der leider viel zu kurzen Fahrt nach oben spürte er, wie sie seine DNA sequenzierte. Als die Fahrstuhltür sich öffnete, war alles Wesentliche zwischen ihnen geklärt.
    Moreany kam ihm um den Verlegerschreibtisch entgegen und berührte ihn mit beiden Händen, so wie man einen lang vermissten Freund begrüßt. Sein Tisch war beladen mit Büchern und Manuskripten. Ganz oben lag das Manuskript von Frank Ellis . Etwa so hatte Henry sich einen Verleger vorgestellt.
    Henry hielt das Versprechen, das er Martha
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