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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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zu erreichen gab es nicht für ihn. Da blieb er Realist. Auch wenn es langweilig war.
    Das Manuskript von Frank Ellis war seine Entdeckung. Es lag eingewickelt in Backpapier unter einem fremden Bett. Henry fand es, als er mit hämmerndem Kopfschmerz seinen linken Socken suchte, um sich, wie schon häufig zuvor, aus einem fremden Zimmer zu stehlen. Die Frau, die neben ihm im Bett lag, hatte er noch nie zuvor gesehen, und er verspürte kein Verlangen, sie noch kennenzulernen. Er sah nur ihren Fuß, die weibliche Silhouette vom Tal der Hüfte zum feinen, kastanienbraunen Haar und schaute nicht weiter nach. Der Ofen war kalt, das Zimmer dunkel, es roch nach Staub und schlechtem Atem. Es war Zeit, zu verschwinden.
    Henry hatte grässlichen Durst, weil er in der Nacht zuvor besonders viel Alkohol getrunken hatte. Es war die Nacht zu seinem sechsunddreißigsten Geburtstag gewesen. Niemand hatte gratuliert. Wie auch, es wusste ja keiner. Wer auch? Als Wanderer schließt man keine festen Freundschaften, und seine Eltern waren lange tot.
    Er besaß keine eigene Wohnung, kein festes Einkommen und keine Vorstellung, wie es weitergehen sollte mit ihm. Warum auch? Die Zukunft ist ungewiss, wer sagt, er kenne sie, ist ein Lügner. Die Vergangenheit ist nichts als Erinnerung und damit pure Fabrikation – allein die Gegenwart ist gewiss, bietet Raum für Entfaltung und vergeht auch gleich wieder. Viel mehr als das Ungewisse quälte Henry die Vorstellung des Gewissen. Zu wissen, was ihm bevorstand, war gleichbedeutend mit dem Pendel über der Grube. Was sollte denn schon groß kommen außer Reue, Tod und Zerfall? Entsprechend dieser durchaus realistischen Einschätzung definierte Henry sein Leben als einen Gesamtprozess, der erst nach seinem Tod von Historikern beurteilt werden sollte. Und wohl dem, der nichts hinterlässt, er muss kein Urteil fürchten.
    Schweigen ist gegen die Natur des Menschen . Mit diesem Satz begann Marthas Manuskript. Der Satz hätte glatt von ihm sein können, fand Henry. Vollkommen zutreffend und so einfach. Er las den nächsten Satz und immer weiter, den linken Socken zog er nicht mehr an, er schlich sich auch nicht aus der kleinen Wohnung, er nahm auch nicht wie sonst herumliegendes Bargeld oder anderweitig Verwertbares mit, um sich davon etwas zu essen zu kaufen.
    Vom ersten Absatz an hatte er den Eindruck, die Geschichte sei seiner eigenen nicht unähnlich. Er las das ganze Manuskript am Stück, blätterte dabei so leise wie möglich, um die unbekannte Frau nicht zu wecken, die neben ihm leise schnarchend schlief. Keine Korrektur war auf den eng beschriebenen Seiten zu finden, soweit er das beurteilen konnte, auch kein Tippfehler, kein falsches Komma. Zwischendurch hielt Henry im Lesen inne, um die schlafende Frau neben sich genauer zu betrachten. Waren sie sich etwa schon mal begegnet? Hatte er ihr von sich erzählt und diese Begegnung vergessen? Wie war gleich ihr Name? Hatte sie den überhaupt erwähnt? Viel geredet hatte sie ja nicht. Unscheinbar war sie, zartgliedrig, mit langen Wimpern, die jetzt ihre geschlossenen Augen beschirmten.
    * * *
    Als Martha am frühen Nachmittag erwachte, hatte Henry bereits den Ofen geheizt, das Rätsel der tropfenden Wasserhähne gelöst, den Duschvorhang befestigt, die Küche aufgeräumt und Spiegeleier gebraten. Die kleine Schreibmaschine auf dem Küchentisch hatte er geölt und einen klemmenden Typenhebel über der Gasflamme geradegebogen. Marthas Manuskript lag wieder eingewickelt unter dem Bett. Sie setzte sich an den Tisch und aß mit großem Appetit die Spiegeleier.
    Er schlug vor, gemeinsam zu leben, sie sagte nichts dazu, was er für ein Ja nahm.
    Sie blieben den ganzen Tag zusammen, sie erzählte ihm, wie er sich in der Nacht zuvor aufgeführt hatte, dass er von sich selbst sagte, er sei komplett bedeutungslos. Henry stimmte dem zu, erinnerte sich aber an nichts mehr.
    Am Nachmittag aßen sie Eis und schlenderten durch den botanischen Garten, wo Henry noch ein wenig von seinem bisher vergangenen Leben erzählte. Er sprach von seiner Kindheit, die damit endete, dass seine Mutter verschwand und sein Vater die Treppe hinunterfiel. Die Jahre, die er in einem Versteck gelebt hatte, erwähnte er nicht.
    Martha unterbrach ihn kein einziges Mal und stellte auch keine Fragen. Sie hielt seinen Arm fest beim Gang durch das tropische Gewächshaus und lehnte irgendwann ihren
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