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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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schön war sie und nicht so gescheit, aber ungemein praktisch. Und jetzt war sie schwanger von ihm, ein Vaterschaftstest erübrigte sich.
    Bettys kühler Pragmatismus hatte Henry schon bei der ersten Begegnung imponiert. Was ihr gefiel, nahm sie sich. Sie hatte Esprit und schlanke Füße, Sommersprossen auf den Apfelsinenbrüsten, grüne Augen und lockiges, blondes Haar. Bei ihrer ersten Begegnung trug sie ein Kleid, das mit bedrohten Tierarten bedruckt war.
    Die Affäre hatte im Augenblick ihrer Begegnung begonnen. Henry musste sich nicht anstrengen, sich nicht verstellen, nicht um sie werben, er musste – wie so oft – gar nichts tun, denn sie hielt ihn für ein Genie. Es störte sie deshalb auch nicht im Mindesten, dass er verheiratet war und keine Kinder wollte. Im Gegenteil. Es war alles eine Frage der Zeit. Sie hatte lang auf einen wie ihn gewartet, das sagte sie ganz offen. Ihrer Meinung nach fehlte es den meisten Männern an Größe. Was sie darunter verstand, sagte sie nicht.
    Inzwischen war Betty Cheflektorin im Verlagshaus Moreany. Begonnen hatte sie als Aushilfskraft im Buchvertrieb, obwohl sie sich für überqualifiziert hielt, weil sie zu dieser Zeit schon ein Literaturstudium abgeschlossen hatte. Die meisten Seminare waren langweilig gewesen, und sie bereute, entgegen dem Rat ihrer Eltern, nicht Jura studiert zu haben. Trotz ihrer Qualifikation waren die Aufstiegsmöglichkeiten im Verlag beschränkt. In den Mittagspausen schlich sie sich in die Büros der Verlagslektoren, um zu schmökern. Eines Tages zog sie aus purer Langeweile Henrys maschinengetippten Text aus dem Faulturm unverlangt eingesandter Manuskripte, um ihn als Lesestoff in die Kantine mitzunehmen. Henry hatte den Text ohne Begleitkommentar als Büchersendung geschickt, um Porto zu sparen. Er war bis dahin immer knapp bei Kasse gewesen.
    Betty las etwa dreißig Seiten, das Essen ließt sie stehen. Dann eilte sie in die dritte Etage in das Büro des Verlagsgründers Claus Moreany und riss ihn aus dem Mittagsschlaf. Vier Stunden später rief Moreany höchstselbst bei Henry an.
    Â»Guten Tag, mein Name ist Claus Moreany.«
    Â»Wirklich? Meine Güte.«
    Â»Sie haben da etwas Wundervolles geschrieben. Etwas wirklich Wundervolles. Haben Sie die Rechte schon verkauft?«
    Hatte er nicht. Der erste Roman, Frank Ellis, verkaufte sich weltweit zehn Million Mal. Ein Thriller, wie man so schön sagt, mit viel Gewalt und wenig Versöhnlichem. Es war die Geschichte eines Autisten, der Polizist wird, um den Mörder seiner Schwester zu finden. Die ersten hunderttausend Exemplare wurden in nur einem Monat verkauft und sicher auch gelesen. Der Gewinn bewahrte das Verlagshaus Moreany vor der Insolvenz. Heute, acht Jahre später, war Henry Bestsellerautor, weltweit in zwanzig Sprachen übersetzt, vielfacher Preisträger und weiß der Teufel was noch alles. Fünf Bestseller-Romane waren inzwischen bei Moreany erschienen, alle wurden verfilmt, fürs Theater bearbeitet, und Frank Ellis wurdebereits als Unterrichtsstoff an Schulen verwendet. Fast schon ein Klassiker. Und Henry war immer noch mit Martha verheiratet.
    Außer Henry wusste nur Martha, dass er kein einziges Wort dieser Romane selbst geschrieben hatte.

II
    O ft hatte Henry sich gefragt, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er Martha nicht kennengelernt hätte. Die Antwort, die er sich selber gab, war stets die gleiche: wie bisher. Er wäre nicht bedeutend geworden, könnte folglich kein Leben in Wohlstand und Freiheit leben, würde mit Sicherheit keinen italienischen Sportwagen fahren, und keiner würde seinen Namen kennen. Hier war Henry im Reinen mit sich. Er wäre unsichtbar geblieben – eine Kunst für sich. Natürlich ist Existenzkampf spannend, macht erst der Mangel die Dinge kostbar, Geld verliert seine Bedeutung, sobald es im Überfluss vorhanden ist. Ist alles richtig. Aber sind Unlust und Gleichgültigkeit nicht ein akzeptabler Tribut für ein Leben in Wohlstand und Luxus und allemal besser als Hunger, Leid und schlechte Zähne? Man muss nicht berühmt werden, um glücklich zu werden, zumal Popularität allzu häufig mit Bedeutung verwechselt wird, aber seit Henry aus dem Dunkel des Allgemeinen ins Licht des Besonderen getreten war, lebte er unvergleichlich viel komfortabler. Seit Jahren beschäftigte er sich deshalb nur noch mit der Erhaltung des Status quo. Mehr
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