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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Autoren: Joël Dicker
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setzte, machte meinem Agenten Douglas Claren Druck, und der wiederum lag mir in den Ohren. Er sagte, die Zeit dränge, ich müsse unbedingt ein neues Manuskript vorlegen. Ich bemühte mich, ihn und damit auch mich selbst zu beruhigen, und beteuerte, dass es mit dem zweiten Roman gut voranginge und er sich keine Sorgen zu machen brauche. Doch trotz der vielen Stunden, die ich mich in meinem Büro verkroch, blieben die Seiten leer: Meine Inspiration hatte sich sang- und klanglos davongemacht, und ich fand sie beim besten Willen nicht wieder. Wenn ich abends schlaflos im Bett lag, überlegte ich mir, dass es den großen Marcus Goldman schon bald, noch vor seinem dreißigsten Geburtstag, nicht mehr geben würde. Diese Vorstellung erschreckte mich dermaßen, dass ich, um auf andere Gedanken zu kommen, Urlaub zu machen beschloss: Ich gönnte mir einen Monat in einem Luxushotel in Miami, sozusagen, um wiederaufzutanken, weil ich zutiefst davon überzeugt war, dass mir die Entspannung unter Palmen zur Wiedererlangung meines vollen kreativen Potenzials verhelfen würde. Doch Florida war natürlich nur ein herrlicher Fluchtversuch, und schon zweitausend Jahre vor mir hatte der Philosoph Seneca dieselbe leidvolle Erfahrung gemacht: Wohin man auch flieht – die Probleme mogeln sich ins Gepäck und folgen einem überallhin. Es war, als wäre mir nach der Landung in Miami ein freundlicher kubanischer Gepäckträger zum Ausgang nachgelaufen und hätte zu mir gesagt: »Sind Sie Mr Goldman?«
    »Ja.«
    »Dann gehört das hier Ihnen.«
    Und er hätte mir einen Umschlag mit einem Papierstoß darin hingehalten.
    »Sind das meine leeren Seiten?«
    »Ja, Mr Goldman. Sie wollten New York doch wohl nicht ohne sie verlassen?«
    Ich verbrachte also einen Monat allein, elend und verdrossen mit meinen Dämonen in einer Hotelsuite in Florida. Das mit »NeuerRoman.doc« benannte Dokument auf meinem Computer, der Tag und Nacht lief, blieb zu meiner Verzweiflung blank. Dass ich mir eine in Künstlerkreisen weitverbreitete Krankheit eingefangen hatte, wurde mir an dem Abend klar, an dem ich den Pianisten der Hotelbar auf eine Margarita einlud. Er erzählte mir an der Theke, dass er in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Song geschrieben habe, aber der war ein Bombenhit gewesen. Er war damit so erfolgreich gewesen, dass er nie wieder etwas hatte schreiben können, und jetzt war er total abgebrannt und unglücklich und hielt sich über Wasser, indem er für die Hotelgäste die Hits von anderen auf dem Klavier klimperte. »Früher habe ich Mordstourneen gemacht und bin in den größten Sälen des Landes aufgetreten«, erzählte er und packte mich am Hemdkragen. »Zehntausend Menschen haben meinen Namen geschrien, die Puppen sind reihenweise in Ohnmacht gefallen, und ein paar haben mir sogar ihr Höschen zugeworfen. Das war was!« Nachdem er wie ein kleiner Hund das Salz rund um sein Glas abgeleckt hatte, fügte er hinzu: »Ich schwör dir, das ist die Wahrheit.« Und das war ja gerade das Schlimme: Ich wusste, dass es stimmte.
    Phase drei meines Unglücks begann mit meiner Rückkehr nach New York. Auf dem Heimflug von Miami las ich an Bord einen Artikel über einen Nachwuchsautor, von dem soeben ein von der Kritik beweihräucherter Roman erschienen war, und bei meiner Ankunft am Flughafen LaGuardia starrte mir in der Gepäckhalle von großen Plakaten sein Gesicht entgegen. Das Leben verhöhnte mich: Man vergaß mich nicht nur, sondern, schlimmer noch, man war dabei, mich zu ersetzen. Douglas, der mich am Flughafen abholte, war außer sich: Bei Schmid & Hanson war man am Ende der Geduld, man wollte einen Beweis, dass ich vorankam und imstande war, ihnen bald das fertige Manuskript zu präsentieren.
    »Es sieht schlecht aus für uns«, sagte er im Auto auf der Fahrt nach Manhattan. »Sag mir, dass du in Florida Kraft getankt hast und mit deinem Buch ein gutes Stück vorangekommen bist! Da ist dieser Kerl, von dem jetzt alle reden … Sein Buch wird der große Weihnachtsknaller. Und du, Marcus? Was hast du für Weihnachten zu bieten?«
    »Ich knie mich rein!«, rief ich in Panik. »Ich krieg das hin! Wir starten eine große Werbekampagne, dann klappt das schon! Die Leute haben mein erstes Buch gemocht, dann werden sie auch das nächste mögen!«
    »Marc, du begreifst es nicht: Vor ein paar Monaten hätten wir das noch tun können. Das war ja gerade unsere Strategie: auf der Welle deines Erfolgs reiten, das Publikum bei Laune halten und ihm geben, was
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