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Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Autoren: Anne Holt
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ihm.
    Die Lichter zogen ihn an und machten ihm zugleich angst.
    Licht barg stets die Gefahr, daß man gesehen wurde. Und dann war es eine Bedrohung. Aber Licht bedeutete auch Wärme. Das Blut pochte schmerzhaft in der entzündeten Schramme. Zögernd stieg er über die niedrig hängende Kette. Er wimmerte, als er sein Hinterbein hob. Sein Durchgang, der Weg in den Verschlag mit dem achtlos in eine Ecke geworfenen alten Schlafsack, lag hinten im Haus, zwischen der Kellertreppe und zwei nie benutzten Fahrrädern.
    Aber die Haustür war heute auch nur angelehnt.
    Haustüren waren gefährlich. Er könnte eingesperrt werden. Aber ein warmes Licht lockte ihn trotzdem an. Treppenhäuser waren besser als Keller. Ganz oben, wo nur selten jemand vorbeikam, war es warm.
    Mit gesenktem Kopf näherte er sich der Steintreppe. Er blieb mit erhobener Vorderpfote stehen, dann trat er langsam in den Lichtkegel hinein, der aus dem Treppenhaus herausfiel. Nirgendwo war auch nur eine Bewegung zu sehen, kein bedrohliches Geräusch war zu hören, nur das ferne, vertraute Rauschen der Stadt.
    Und dann war er im Haus.
    Wo es noch eine offene Tür gab.
    Es roch nach Essen, und es war ganz still.
    Es roch so sehr nach Essen, daß er nicht mehr zögerte. So schnell er konnte, humpelte er in die Wohnung hinein, blieb in der Diele aber stehen. Er knurrte tief in der Kehle und fletschte die Zähne, als er den Mann auf dem Boden sah. Nichts passierte. Der Hund ging weiter, neugierig jetzt, eher neugierig als ängstlich. Vorsichtig näherte seine Schnauze sich dem bewegungslosen Körper. Behutsam leckte er an der Blutlache, die den Kopf des Mannes umgab. Seine Zunge wurde schneller, schrappte über den Boden, befreite die Wange des Mannes von der geronnenen Masse, bohrte sich ins Loch gleich neben der Schläfe: Der ausgehungerte Hund leckte alles, was er aus dem Schädel nur herausholen konnte, ehe ihm aufging, daß er für seine Nahrung gar nicht so hart zu arbeiten brauchte.
    In der Wohnung lagen drei Körper. Sein Schwanz peitschte vor Begeisterung.
    »Hier gibt’s nichts zu diskutieren. Nefis muß sich verdammt noch mal an unsere Sitten halten.«
    Marry knallte die Tür zu.
    »Eins, zwei, drei, vier«, zählte Hanne Wilhelmsen, und bei vier stand Marry wieder im Zimmer.
    »Wenn ich zu Weihnachten zu diesen Muslimisten fahren würde, dann würde ich auch essen, was sie mir vorsetzen. Das ist doch eine Frage der Höflichkeit, wenn du mich fragst. Sie ist ja nicht mal fromm. Das hat sie mir schon ganz oft gesagt. Und Heiligabend gibt’s in Norwegen eben Schweinerippe. Und damit basta!«
    »Aber Marry!« Hanne setzte resigniert zu einem neuen Versuch an. »Können wir nicht geräuchertes Hammelfleisch essen? Damit wäre das ganze Problem gelöst. Wir hatten doch letztes Jahr schon Rippe.«
    »Das Problem?«
    Marry Samuelsen hatte früher einmal als Harry Marry gelebt, Oslos älteste Straßennutte. Hanne war drei Jahre zuvor in Verbindung mit einem Mordfall über sie gestolpert. Marry war damals arg verkommen gewesen, Drogen und Großstadtkälte hatten ihre Spuren hinterlassen. Jetzt lebte sie als Haushälterin bei Hanne und Nefis in deren Siebenzimmerwohnung in der Kruses gate. Marry fuhr eifrig mit ihren gichtig geplagten Händen über ihre Schürze.
    »Das Problem, beste Hanne Wilhelmsen, ist, daß die einzige Weihnachtsrippe, die ich je in mein zahnloses Maul schieben konnte, als ich dich und Nefis noch nicht kannte, wäßrig und kalt war und auf einem Pappteller der Heilsarmee lag.«
    »Das weiß ich, Marry. Wir können doch auch zwei Gerichte einplanen? Wir können uns das leisten, das weißt du.«
    Hanne Wilhelmsen sah sich mit resignierter Miene im Zimmer um. Das einzige Möbelstück, das Hanne aus der Wohnung in Lille Tøyen mitgebracht hatte, wo sie mehr als fünfzehn Jahre gelebt hatte, war ein antiquarischer Sekretär, der in einer Ecke am Ausgang zu einem riesigen Balkon fast verschwand.
    »Weihnachten ist kein Platz für Kompromisse«, erklärte Marry feierlich. »Wenn du so wie ich Jahr für Jahr, einen Heiligabend nach dem anderen, an einem Speckstück gelutscht hättest, das zu zäh zum Essen war, und wenn du dabei einsam und vergessen in einer Ecke gesessen hättest, dann wüßtest du, daß es hier darum geht, daß wir auf unsere Träume aufpassen müssen. Heiligabend mit Kristall und Silber, einem Baum in der Ecke und einer dicken fetten Rippe mitten auf dem Tisch mit einer so knusprigen Schwarte, daß sie kracht. In all den
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