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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Autoren: Hannes Wertheim
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das Empfangszimmer, das Büro, die Bibliothek und das Schlafgemach des Kaufmanns befanden. Sie warf einen flüchtigen Blick nach links. Hinter einer Biegung des Ganges gab es noch ein Zimmer, eines mit doppelt verriegelter Tür. Sie krauste die Stirn. Mochte sie noch so heiter gestimmt sein, in diesem Haus holten sie an jeder Ecke trübe Gedanken ein.
    Hatte Juliana wirklich ein Geheimnis, das dunkler als die Nacht selber war? So dunkel wie die Nacht, in der die Bewohnerin des verriegelten Zimmers lebte, selbst wenn es lichter Tag war? Seufzend verharrte Columba und strich mit dem Finger über die steinerne Nase einer Treppenfigur. Müßte sie ihrer Stiefmutter nicht eine bessere Tochter sein, mitleidiger in ihrem Empfinden für diese wilde, zerquälte Kreatur, die der Vater seit Monaten vor der Welt in jenem Zimmer verschloß?
    Armes Weib, von Gott gestraft und eine Strafe Gottes. Der Tod ihres einzigen, langersehnten, aber mißgestalteten Kindes hatte sie wirr gemacht. Die letzte Pest hatte den fahlgesichtigen Wurm, einen Sohn, noch vor der Taufe verzehrt. Den Gatten klagte die späte Mutter des Kindsmordes an, da er, der Geschäfte wegen, mit der Familie nicht rechtzeitig vor der Seuche auf sein Landgut bei Zons geflohen war. Ein Strom unflätiger Worte brach abwechselnd mit irrwitzigen Liebesschwüren aus der Wahnsinnigen, wann immer sie ihn sah, der aufgestaute Wust und Aushub ihres Lebens zwischen Messe und Haushalt, Kirchenstuhl und Stuhlgang, Bett und Beichte. Und dann immer wieder dieses Flehen um die Lust und die Lenden des Gatten. Das Wimmern um Zuneigung. Liebe zählte zu den gefährlichen Krankheiten, da hatten die gelehrten Mediziner durchaus recht.
    Columba biß sich auf die Lippen. Dieses unglückliche Haus erdrückte sie: der verlorene Bruder, die irrwitzige Stiefmutter, die katzengleiche Schwester, der kaltgesichtige Vater, die nörgelnde Mertgin. Wie Dämonen hockten sie in ihrer jungen Seele und verdunkelten sie oft. Nur oben auf dem Treppenturm wehte die Luft der Freiheit. Luft!
    Sie vergaß das Zimmer linker Hand, die Schwester, das Dunkel, gab der Treppennymphe einen Nasenstüber und nahm mit einem Sprung zwei Stiegen – wie ein Kind im Nu wieder lustig. Ihre tänzelnden Schritte verrieten die Rückkehr der Fröhlichkeit. Summend passierte sie das ebenerdige Kontor, wo emsige Fakturisten über Kontobüchern hockten, mit dem Prüfmesser Münzen schabten und ihre Federn übers Papier kratzen ließen. Sie trat in den Hof und trank sich satt am Frost, am Geschrei, am Gezänk, am Gurren der Tauben. Sie liebte das Leben.
    Niemand schien sie zu beachten, sie schlug den Umhang enger um sich, zog die Kapuze tief ins Gesicht und huschte durch den Torweg hinaus auf die Gasse. Ein steinerner Adler blickte ihr nach, das Wappentier der van Gelderns: Ein Bündel von Blitzen trug den Greifvogel, die er nur mühsam zu bändigen schien.
    Columbas schleichender Verfolger würdigte den Vogel keines Blickes.
    2
    Wie ein gieriges Flämmchen schoß der Schmerz hoch, durchstach ihm die Blase, loderte unter der Bauchdecke auf und fraß sich brennend durch die Gedärme fort bis in sein zerfurchtes Fuchsgesicht. Arndt van Geldern zuckte. Die Krankheit war sein ständiger Begleiter, aber bezwingen sollte sie ihn nicht. Er knirschte mit den Zähnen und umklammerte mit der knochigen Linken die Lehne des Stuhls, der neben ihm in der Fensternische stand. Dieses verfluchte Steinleiden. Was hatte er nicht alles dagegen versucht. Viele Quart Tönnissteiner Sprudel getrunken, den Aderlaß vornommen, bis sein Blut dünn wie Wasser war. Die Mittel der Drecksapotheke – vom Pferdemist bis zum Schweinekot – hatte er auf seinen Unterleib gestrichen, ein ganzes Nonnenkonvent zum Schutzheiligen der Blasenkranken, den heiligen Stephanus, beten lassen. Nichts kurierte, nichts linderte. Die Chirurgen rieten ihm, den Stein zu stechen, doch der Schnitt, das Blut, der Schmerz, der Brand und vielleicht der Tod, nein, dann lieber der Schmerz. Er ließ schon nach, und van Gelderns Züge entspannten sich unter seiner gelblichen Haut.
    Sein Blick fiel auf den Alten Markt vor dem Fenster: Krämerbuden, Apfelweiber, buntes Gewimmel, Feilschen, Schwätzen und Krakeel. Er liebte den Anblick der Geschäftigkeit. Leben. Obgleich er beinahe zweiundsechzig Sommer gesehen hatte, blieb noch so vieles zu tun, wenn nicht alles verloren sein sollte. Der Name, das Geld, das Haus, das Ziel, einer der reichsten und vornehmsten Bürger seines Vaterlandes –
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