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Die Violine des Teufels

Die Violine des Teufels

Titel: Die Violine des Teufels
Autoren: Joseph Gelinek
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daher die Erklärung in übernatürlichen Ursachen gesucht.«
    »Das stimmt, aber am meisten hat Paganinis Aussehen zur Entstehung dieses Mythos beigetragen. Er war sehr blass, sein Gesicht war außergewöhnlich kantig und abgezehrt, und seine sehr dünnen Lippen schienen sich immer zu einem zynischen Lächeln zu verziehen. Am erschreckendsten war nach zeitgenössischen Schilderungen aber wohl sein Blick – als hätte er statt Augen glühende Kohlen.«
    »Ein bisschen wie die Schnitzerei an Ihrer Geige«, sagte Agostini, der sich noch immer nicht überwinden konnte, die alptraumhafte Fratze direkt anzusehen.
    »Oder wie der Schauspieler Klaus Kinski, der Paganini im Film verkörpert hat.«
    Agostini sah auf die Uhr – es waren noch knapp dreißig Minuten bis zu ihrem Auftritt. Er musste noch mit dem Konzertmeister sprechen, um ihm letzte Anweisungen zu geben, doch er war so gebannt von Larrazábals Persönlichkeit und ihrem spannenden Gespräch, dass er sich nicht überwinden konnte, zu gehen.
    Zugleich hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er der Geigerin die Zeit raubte, die ihr noch für ihre Aufwärmübungen blieb – in dieser Hinsicht unterscheidet sich eine Violinenvirtuosin nicht von einer Spitzensportlerin –, und so fühlte er sich verpflichtet, zu sagen: »Ich will Sie nicht länger aufhalten, Signorina. Machen Sie mit Ihren Läufen weiter.«
    »Zum Teufel mit den Läufen!«, erwiderte Larrazábal. »Wie passend, nicht wahr? Keine Sorge, Maestro, die Geige spielt man nicht mit den Händen, sondern hiermit.« Sie klopfte sich mit dem Bogen ihrer Geige zwei Mal leicht an den Kopf und erklärte dann: »Mit Ihnen zu reden, ist sehr anregend, und das ist viel wichtiger für mich, wenn ich auftreten soll! Außerdem bleibt mir die gesamte Mozart-Ouvertüre für die letzten Aufwärmübungen.«
    »In diesem Fall erzählen Sie doch bitte weiter.«
    »Paganini starb nicht in Italien, sondern in Nizza. Er hatte die Stimme vollständig verloren, durch ein Kehlkopfleiden, das von der Syphilis herrührte, die er sich zwanzig Jahre zuvor zugezogen hatte. Der Legende nach kam in den frühen Morgenstunden des 27. Mai der Domherr Caffarelli zu Paganini, um ihm die Beichte abzunehmen, aber angeblich hat Paganini sich geweigert, die Tafel zu benutzen, mit deren Hilfe er sonst kommunizierte, weil ihm mittlerweile auch das Schreiben schlimme Schmerzen bereitete. Mit Gesten soll er versucht haben, dem Geistlichen seine letzten Gedanken mitzuteilen, aber der verstand ihn falsch, und was er hinterher dem Bischof von Nizza, Monsignore Galvano, darüber berichtete, war verheerend. Daraufhin verfügte der Bischof, Paganini sei im Zustand der Todsünde gestorben, und verweigerte ihm ein christliches Begräbnis. Das ist jedenfalls die offizielle Version.«
    »Sie glauben nicht daran?«
    »Ich misstraue der Kirche und ihren Dienern.«
    »Und Sie sind auch nicht abergläubisch? Ich frage das, weil heute der 27. Mai ist.«
    »Glauben Sie, das wäre mir nicht aufgefallen? Ich habe Arjona extra gebeten, das Konzert heute zu veranstalten, eben weil heute Paganinis Todestag ist.«
    »Und wo wurde er dann begraben?«, fragte Agostini, mittlerweile sehr gespannt auf das Ende der Geschichte.
    »Seine Leiche wurde einbalsamiert und blieb zwei Monate in seinem Haus in Nizza. Schließlich ordneten die Gesundheitsbehörden an, dass die sterblichen Überreste das Haus verlassen mussten, woraufhin die Leiche in ein kleines Landhaus in der Nähe von Genua gebracht wurde, das Paganini gehört hatte. Dort blieb sie über dreißig Jahre lang, bis die Kirche 1876 endlich erlaubte, sie auf dem Friedhof von Parma beizusetzen.«
    Agostini bemerkte, dass zusammen mit dem Ende der Geschichte eine beinahe unwirkliche Stille eingetreten war, auch jenseits der Garderobentür: keine Schritte, keine Stimmen, keine Musiker, die zum Aufwärmen Läufe spielten. Es schien, als wäre das gesamte Gebäude auf einmal leer und verlassen. Nach einigen Sekunden riss eine Männerstimme vor der Tür Agostini aus seinen Gedanken.
    »Ane? Darf ich reinkommen?«
    Es war Andrea Rescaglio, Erster Solocellist des Spanischen Nationalorchesters. Ihm unterstanden die elf Musiker, aus denen die Cellogruppe des Orchesters bestand, und bei den Proben hatte er sehr gut mit Agostini zusammengearbeitet. Er küsste Ane Larrazábal auf den Mund, und da begriff der manchmal recht weltfremde Dirigent schließlich, was in den beiden vorangegangenen Tagen eigentlich schon nicht zu
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