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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Vor zwei Wochen war dann plötzlich etwas geschehen, was dem ältlichen Hoteldiener nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.
    Er ging gerade mit Boris an einem der zahlreichen Cafés der Altstadt vorbei, als er plötzlich seine Tochter in dem Café sitzen sah. Wegen der Markise lag die Glasfront ganz im Schatten, und so konnte er ungehindert bis in den hinteren Teil des Lokals schauen, und da sah er Sophie ganz allein sitzen, eine Tasse Kaffee vor sich, einen Ausdruck tiefster Niedergeschlagenheit auf dem Gesicht. Die Erkenntnis, daß sie nicht einmal die Kraft aufgebracht hatte, die Altstadt zu verlassen, ganz zu schweigen von ihrem Gesichtsausdruck, hatte den Hoteldiener schwer erschüttert – und zwar so sehr, daß eine ganze Weile verging, ehe ihm einfiel, daß er Boris ablenken sollte. Es war schon zu spät: Boris war dem Blick des Hoteldieners gefolgt und hatte seine Mutter klar und deutlich gesehen. Der Junge hatte sofort wieder weggeschaut, und sie hatten ihren Spaziergang fortgesetzt, ohne die Sache auch nur einmal zu erwähnen. Nur Minuten später hatte Boris wieder gute Laune, aber dennoch hatte der Zwischenfall den Hoteldiener sehr beunruhigt, und er hatte seitdem viele Male daran denken müssen. Tatsächlich war die Erinnerung an diesen Vorfall der Grund für seinen gedankenverlorenen Ausdruck in der Hotelhalle und der Grund dafür, daß er sich auch jetzt, während er mir das Zimmer zeigte, wieder Sorgen machte.
    Der alte Mann war mir inzwischen sehr sympathisch, und ich verspürte eine Welle des Mitgefühls für ihn. Offensichtlich hatte er über allerlei Dinge lange Zeit gegrübelt und lief jetzt Gefahr, seine Sorgen unberechtigte Ausmaße annehmen zu lassen. Ich zog in Erwägung, die ganze Angelegenheit mit ihm zu besprechen, doch als Gustav mit seinem üblichen Vortrag am Ende war, überkam mich wieder die Müdigkeit, die ich mit einigen Unterbrechungen schon gefühlt hatte, seit ich aus dem Flugzeug gestiegen war. Ich beschloß, später mit ihm über die Sache zu reden, und entließ ihn mit einem großzügigen Trinkgeld.

    Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, da fiel ich, so wie ich war, auf das Bett und starrte eine ganze Weile mit leerem Blick an die Decke. Zuerst kreisten in meinem Kopf nur die Gedanken an Gustav und seine diversen Probleme. Doch während ich so dalag, wurde mir bewußt, daß ich wieder an das Gespräch mit Miss Stratmann dachte. Ganz offensichtlich erwartete diese Stadt mehr von mir als nur ein schlichtes Konzert. Doch als ich versuchte, mich an einige grundlegende Einzelheiten dieser Tournee zu erinnern, wollte mir das nicht gelingen. Mir wurde klar, daß es sehr dumm von mir gewesen war, nicht viel offener mit Miss Stratmann gesprochen zu haben. Wenn ich meinen Terminplan nicht erhalten hatte, dann war das ihr Fehler, nicht meiner, und ich hatte mich ganz ohne Grund so entschuldigend und vorsichtig verhalten.
    Mir fiel der Name Brodsky wieder ein, und jetzt hatte ich das deutliche Gefühl, daß ich vor gar nicht allzu langer Zeit etwas über ihn gehört oder gelesen haben mußte. Und dann kam mir plötzlich eine kurze Szene wieder ins Gedächtnis, die sich während des langen Fluges zugetragen hatte, den ich gerade hinter mir hatte. Ich hatte in dem abgedunkelten Flugzeug gesessen, und während die anderen Passagiere um mich herum schliefen, hatte ich unter dem schwachen Strahl der Leselampe den Terminplan für diese Tournee studiert. Einmal war der Mann neben mir aufgewacht, und nach ein paar Minuten hatte er einige witzige Bemerkungen gemacht. Tatsächlich hatte er sich sogar, so fiel mir jetzt wieder ein, zu mir herübergelehnt und mir eine kleine Quizfrage gestellt, irgend etwas über die Fußballweltmeisterschaft. Ich wollte mich von der Analyse meines Terminplans nicht ablenken lassen, und so fertigte ich ihn recht kühl ab. An all das erinnerte ich mich jetzt ganz deutlich. Ich erinnerte mich sogar an die Struktur des dicken grauen Papiers, auf das der Terminplan gedruckt war, an den trüben gelben Fleck, der von der Leselampe auf das Papier geworfen wurde, an das Dröhnen der Flugzeugmotoren – doch sosehr ich mich auch bemühte, ich wußte nichts mehr von dem, was auf dem Blatt gestanden hatte.
    Kurze Zeit später spürte ich dann, wie mich meine Müdigkeit überwältigte, und ich entschied, daß es keinen Zweck hatte, mir weiter Sorgen zu machen, bevor ich nicht ein wenig geschlafen hatte. Denn aus Erfahrung wußte ich ganz genau, wieviel klarer man die
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