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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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mir fixierte. Ich drehte mich um und sah verblüfft, daß wir in dem Aufzug nicht allein waren. Eine kleine junge Frau in adretter Straßenkleidung stand hinter mir, in die äußerste Ecke gezwängt. Als sie sah, daß ich sie endlich bemerkt hatte, lächelte sie und trat einen Schritt vor.
    »Tut mir leid«, sagte sie zu mir, »ich hoffe, Sie glauben nicht, daß ich Sie belauscht habe, aber ich habe natürlich mit angehört, was Gustav Ihnen da alles erzählt hat, und ich muß sagen, er war uns allen gegenüber ziemlich ungerecht. Ich meine, wenn er sagt, daß wir unsere Hoteldiener nicht achten. Natürlich achten wir sie – und unseren Gustav hier ganz besonders. Alle lieben ihn. Da ist ein offensichtlicher Widerspruch selbst in dem, was er Ihnen gerade erzählt hat. Wenn wir nämlich wirklich so wenig Hochachtung hätten, wie erklärt er dann das große Ansehen, das sie im Ungarischen Café genießen? Also wirklich, Gustav, das ist nicht sehr nett von Ihnen, daß Sie Mr. Ryder ein so falsches Bild von uns vermitteln.«
    Das alles war in eindeutig freundlichem Ton gesagt, aber der Hoteldiener schien wirklich beschämt. Er rückte ein wenig ab von uns, die schweren Koffer schlugen ihm dabei gegen die Beine, und verschüchtert schaute er weg.
    »So, jetzt haben wir es ihm aber gezeigt«, sagte die junge Frau lächelnd. »Aber er ist wirklich einer der besten. Wir alle lieben ihn. Er ist unwahrscheinlich bescheiden, und deshalb würde er es Ihnen von allein nie sagen, aber die anderen Hoteldiener in der Stadt schauen alle zu ihm auf. Ja, wahrscheinlich wäre es nicht einmal übertrieben zu sagen, daß sie alle gewaltigen Respekt vor ihm haben. Manchmal sieht man sie sonntags nachmittags an ihrem Tisch sitzen, und wenn Gustav noch nicht eingetroffen ist, warten sie immer, ehe sie anfangen zu reden. Sie würden es nämlich respektlos finden, ohne ihn mit ihren Beratungen zu beginnen. Oft sieht man sie zu zehnt oder elft schweigend über ihrem Kaffee sitzen und warten. Allenfalls flüstern sie gelegentlich miteinander, als wären sie in der Kirche. Aber erst wenn Gustav da ist, entspannen sie sich und fangen an, sich zu unterhalten. Nur um Gustavs Ankunft zu erleben, lohnt es sich schon, zum Ungarischen Café zu gehen. Der Unterschied zwischen vorher und nachher ist wirklich verblüffend, das können Sie mir glauben. Den einen Moment sitzen sie alle noch stumm mit ihren mürrischen alten Gesichtern um den Tisch herum. Doch kaum erscheint Gustav, geht ein Geschrei und Gelächter los. Sie geben sich freundschaftliche Klapse, schlagen sich gegenseitig auf den Rücken. Manchmal tanzen sie sogar, ja tatsächlich, und zwar auf den Tischen. Sie haben einen besonderen ›Hoteldiener-Tanz‹, stimmt’s, Gustav? Sie haben richtig Spaß zusammen. Aber erst, wenn Gustav erschienen ist. Aber das würde er Ihnen von allein natürlich nie sagen, dazu ist er viel zu bescheiden. Wir alle hier in der Stadt lieben ihn.«
    Während die junge Frau sprach, muß sich Gustav wohl immer weiter weggedreht haben, denn als ich wieder zu ihm hinsah, stand er mit dem Rücken zu uns vor der gegenüberliegenden Ecke des Aufzuges. Unter dem Gewicht der Koffer sackte er in den Knien ein, und auch seine Schultern zitterten. Den Kopf hatte er so tief nach vorn gebeugt, daß er für uns hinter seinem Körper praktisch versteckt war, doch ob das nun auf seine Verschämtheit oder die schiere körperliche Anstrengung zurückzuführen war, ließ sich schwer sagen.
    »Entschuldigen Sie, Mr. Ryder«, sagte die junge Frau. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Hilde Stratmann. Ich soll dafür sorgen, daß während Ihres Aufenthaltes hier bei uns alles reibungslos verläuft. Ich bin so froh, daß Sie es schließlich doch noch geschafft haben. Alle haben hier heute vormittag so lange wie möglich gewartet, aber viele hatten wichtige Termine, und so mußte einer nach dem anderen gehen. Also ist es meine Aufgabe, Ihnen als kleine Angestellte des Städtischen Kulturvereins zu sagen, wie sehr wir uns alle durch Ihren Besuch geehrt fühlen.«
    »Und ich habe mich sehr über die Einladung gefreut. Aber wegen heute vormittag. Sagten Sie gerade...«
    »Ach, machen Sie sich wegen heute vormittag bitte keine Gedanken, Mr. Ryder. Das hat niemand übelgenommen. Hauptsache, Sie sind jetzt hier. Worin ich Gustav übrigens voll und ganz zustimme, Mr. Ryder, ist in dem, was er über die Altstadt gesagt hat. Dieser Teil der Stadt ist wirklich sehr sehenswert, und ich
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