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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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erzählt habe, wir haben im Ungarischen Café viel über dieses Thema gesprochen. Ich meine, über diese alten Beschlüsse, die wir vor all den Jahren gefaßt haben. Keiner von uns hat sich nämlich überlegt, was werden wird, wenn wir erst älter sind. Ich nehme an, wir waren so mit unserer Arbeit beschäftigt, daß wir nicht weiter als bis zum nächsten Tag gedacht haben. Vielleicht haben wir auch falsch eingeschätzt, wie lange es dauern würde, bis sich diese tief verwurzelten Einstellungen ändern. Aber so ist es nun mal. Ich bin so alt, wie ich bin, und mit jedem Jahr wird es schwieriger.«
    Der Hoteldiener schwieg einen Augenblick, und trotz der körperlichen Anstrengung, der er ausgesetzt war, schien er ganz gedankenverloren. Dann sagte er:
    »Ich sollte ganz ehrlich sein. Das ist nur fair. Als ich noch jünger war, als ich diese Regeln damals für mich aufstellte, habe ich immer bis zu drei Koffer getragen, egal wie groß oder schwer sie waren. Wenn ein Gast einen vierten Koffer hatte, habe ich den auf dem Boden abgestellt. Aber drei konnte ich immer bewältigen. Also, die Wahrheit ist, daß es mir vor vier Jahren gesundheitlich nicht so gut ging, und es fiel mir alles etwas schwer, und darüber haben wir dann auch im Ungarischen Café gesprochen. Na ja, schließlich waren sich meine Kollegen einig, daß ich so streng nun auch wieder nicht mit mir sein müßte. Meine Aufgabe wäre es doch nur, so haben sie zu mir gesagt, den Gästen einen Eindruck von dem zu vermitteln, was unsere Arbeit wirklich ausmacht. Ob nun zwei Gepäckstücke oder drei, die Wirkung wäre so ziemlich dieselbe. Ich sollte mein Minimum bei zwei Koffern ansetzen, und keinem wäre geschadet. Daran habe ich mich dann auch gehalten, aber ich weiß, es ist nicht so ganz das Wahre. Ich merke ja, daß es nicht annähernd dieselbe Wirkung hat, wenn die Leute mich jetzt beobachten. Ob man nun einen Hoteldiener sieht, der sich mit zwei Koffern müht, oder einen mit drei Koffern, Sie müssen doch wohl zugeben, daß das auch für das ungeübteste Auge ein beträchtlicher Unterschied ist. Ich weiß das, und ich sage es Ihnen ganz offen, es ist mir ganz schön schwergefallen, damit zu leben. Aber ich will noch einmal auf die eigentliche Sache zurückkommen. Ich hoffe, Sie verstehen jetzt, warum ich Ihre zwei Koffer nicht abstellen möchte. Es sind ja nur zwei. Wenigstens ein paar Jahre lang werde ich zwei Koffer noch bewältigen können.«
    »Na, das ist ja alles höchst lobenswert«, sagte ich. »Und den beabsichtigten Eindruck haben Sie auf mich ganz bestimmt gemacht.«
    »Sie sollten wissen, daß ich nicht der einzige bin, der gewisse Einschränkungen hinnehmen mußte. Diese Dinge besprechen wir ständig im Ungarischen Café, und tatsächlich mußten wir alle gewisse Einschränkungen hinnehmen. Aber glauben Sie nur nicht, daß wir uns gestatten würden, weit von den einmal gesetzten Maßstäben abzurücken. Wenn wir das tun würden, dann wären all unsere Bemühungen während der vergangenen Jahre umsonst gewesen. Dann wären wir sehr schnell nur noch lächerliche Figuren. Die Leute auf der Straße würden sich über uns lustig machen, wenn sie uns am Sonntagnachmittag an unserem Tisch sitzen sehen. O nein, wir werden immer sehr streng mit uns sein, und Fräulein Hilde wird sicher bestätigen, daß unsere sonntäglichen Versammlungen in der Gemeinde einiges Ansehen genießen. Wie ich schon sagte, Sie sind uns jederzeit herzlich willkommen. Das Café und auch der Platz sind an diesen sonnigen Nachmittagen wirklich sehr, sehr schön. Und manchmal bestellt der Besitzer des Cafés auch Zigeunergeiger, die dann auf dem Platz spielen. Auch bei dem Besitzer genießen wir übrigens allergrößte Hochachtung. Das Café ist nicht gerade groß, aber immer sorgt er dafür, daß genügend Platz da ist, damit wir bequem an unserem Tisch sitzen können. Sogar wenn einmal ganz viel Betrieb ist, sorgt er dafür, daß wir unseren Platz bekommen und ungestört sind. Sogar an den hektischsten Nachmittagen könnten wir an unserem Tisch alle gleichzeitig die Arme nach allen Seiten ausstrecken und würden niemandem in die Quere kommen. So große Hochachtung genießen wir bei dem Besitzer. Fräulein Hilde wird das alles sicher bestätigen.«
    »Entschuldigung«, sagte ich, »aber wer ist denn dieses Fräulein Hilde, das Sie ständig erwähnen?«
    Kaum hatte ich das gefragt, da merkte ich, daß der Hoteldiener über meine Schulter hinweg einen ganz bestimmten Punkt hinter
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