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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
Autoren: Akif Pirincci
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Meister mit seinem eigenen Aktmodell verwechselt wurde, wie es Seichtem seinerzeit oft passiert war. Ein Maler sollte Kraft, Irrwitz, Kaputtheit, Roheit, ja eine gewisse Art von Brutalität ausstrahlen, hatte er schon damals festgestellt, auf keinen Fall jedoch Schönheit.
    Ali nahm sich diese Erkenntnis zu Herzen und leitete umgehend Gegenmaßnahmen ein, indem er sich schlampig kleidete, sich selten wusch und rasierte und keine Verwandlungskünste scheute, um seinen Kaschmirpulloverlook gegen den eines Chaoten zu tauschen. Zudem legte er sich durch intensives Studium amerikanischer Undergroundliteratur in der Tradition von Charles Bukowski ein rüpelhaftes Gehabe zu und gewöhnte sich das Trinken an. Zumindest dem letzteren sollte er von da an immer treu bleiben.
    Das alles nützte natürlich wenig, denn selbst in einer Kunstakademie, wo es vor lauter verrückten jungen Menschen nur so wimmelte, war der analytische Verstand nicht derart tiefergelegt, daß man derartige Manöver nicht durchschaut hätte. Das Gegenteil war eher der Fall. Seichtem und seine Kunst wurden weiterhin kaum anerkannt. Und bald kannte er auch die wahre Ursache.
    Dummerweise hing diese mit dem erbittertsten Streit in der modernen Malerei zusammen. Heutzutage wurde dieser Streit freilich nur noch von gelangweilt durch die Museen schlendernden, ihrer abendlichen Hotelsause entgegenhechelnden Touristen ein wenig aufgewärmt. Nichtsdestotrotz war die Debatte jedem, der zum Kunstbetrieb gehörte, so unangenehm bewußt wie ein peinliches Familiengeheimnis, über das zwar jeder Bescheid weiß, das aber niemals ausgesprochen werden darf. Nach dem Motto »Der Kaiser ist ja nackt!« fühlte sich nämlich fast jeder Banause von Tourist in Anbetracht eines modernen Gemäldes genötigt, auszurufen: »Das kann ich auch!«
    Dies war normalerweise der Zeitpunkt, an dem ein Kunstexperte an die Seite des Unkundigen zu treten und ihn darüber aufzuklären hatte, daß es sich bei dem Schöpfer der unergründlichen Kleckserei keineswegs um einen talentlosen Hochstapler handelte, sondern um ... Also das war so: Wenn ein moderner Maler die Binden seiner Frau auf eine Leinwand tackerte und das G anze als Kunst ausgab, so bedeutete das nicht unbedingt, daß der gute Mann unfähig war, das Mysterium des weiblichen Körpers mittels konventioneller malerischer Mittel zu thematisieren, oder daß er sich als Kandidat für die Zwangsjacke empfahl. Nein, vielmehr bedeutete es, daß er sich dabei etwas gedacht hatte! Dies war der Zauberspruch, das Sesam-öffne-dich!, mit dem man die Welt der Kunst betrat. Der zeitgenössische bildende Künstler ließ sich kaum mit der Elle des zeichnerischen Geschicks mehr messen, weil er seine Ausdrucksmöglichkeiten im Vergleich zu seinen Kollegen in früheren Zeiten ins Unendliche erweitert hatte. Der gewöhnliche Tourist, der in Anbetracht der an die Leinwand getackerten Binden »Das kann ich auch!« ausrief, mochte vielleicht, was die rein technische Ausführung anging, im Recht sein. Doch da er sich im Gegensatz zu dem Künstler dabei nichts gedacht hatte, war das Endprodukt künstlerisch komplett wertlos. Kurz, das Gemälde an sich spielte eine weit geringere, wenn nicht sogar überhaupt keine Rolle im Vergleich zu dem Theorienkonstrukt, in das es eingebettet war. Die Ästhetik und die handwerkliche Finesse eines Bildes waren längst der Idee gewichen oder besser gesagt der Propagandapower des Ideenschöpfers.
    Diese Denkweise hatte inzwischen eine derartige Verbreitung gefunden, daß derjenige, der wirklich malen konnte, sich der Mittelmäßigkeit, ja der Talentlosigkeit verdächtig machte. Und genau das war Seichtem, solange er denken konnte, immer zum Verhängnis geworden. Denn wenn Ali auch sonst null und nichts konnte, malen konnte er wirklich.
    In der Akademie hatte Seichtem, erfolglos getarnt als der stinkende Wilde, zur Genüge beobachten können, daß fast alle seine Kommilitonen rein handwerklich nur Jämmerliches zuwege brachten, geschweige denn, daß ihre Arbeiten künftige wie auch immer geartete künstlerische Überraschungen erahnen ließen. Um so eifriger diskutierten sie bis an den Rand der Bewußtlosigkeit über aktuelle Stars, welche mit orange angestrichenen Leinwänden experimentierten oder es mit gerahmten Spielzeugpuppengliedern zu Weltruhm gebracht hatten.
    Sein engster Saufkumpan in jenen Tagen, aus einem komischen Grund nannten ihn alle Hicks, hatte Ali seine wahre künstlerische Ader vorgeführt, als sie
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