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Die Trinity Verschwörung

Die Trinity Verschwörung

Titel: Die Trinity Verschwörung
Autoren: Charles Cumming
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hält. Die Frau flüsterte dem Geschäftsführer etwas zu, suchte kurz Sams Blick und nahm auf einem Stuhl in der letzten Reihe Platz.
    Gaddis wünschte, er hätte seine Unterlagen dabei. Am UCL war seine jährliche Vorlesung über die Belagerung Leningrads ein Ereignis, das niemand ausließ, eine Veranstaltung, an der jeder Student des Programms für Russische Geschichte aus Begeisterung so sehr wie aus Pflichtbewusstsein teilnahm. Zu Beginn stand Gaddis immer hinter einem Tisch, auf dem ein Drittellaib aufgeschnittenes Weißbrot, ein Pfund Hackfleisch, eine Schale Haferflocken, eine kleine Tasse Sonnenblumenöl und drei Vollkornkekse lagen.
    » Das hier«, verkündet er dem brechend vollen Hörsaal, » ist alles, was Sie in den nächsten dreißig Tagen zu essen bekommen. Mehr konnte ein erwachsener Einwohner Leningrads damals für seine Lebensmittelkarte nicht beanspruchen. Was unsere Januardiät ja wohl ein bisschen relativiert, oder?« Da er diese Vorlesung gleich nach Neujahr hält, löst dieser Scherz regelmäßig leicht nervöses Gelächter aus. » Aber genießen Sie sie, solange Sie können.« Verwirrtes Lachen in der ersten Reihe. Teller für Teller, Schale für Schale kippt Dr. Gaddis das Essen auf den Boden, bis nur noch die zehn Scheiben trockenen Weißbrots vor ihm auf dem Tisch liegen. » Als die Belagerung anfängt, richtig wehzutun, ist trockenes Brot so ziemlich das einzige Nahrungsmittel, das es noch gibt, und sein Nährwert geht gegen null. Und es ist nicht etwa Hovis oder Mother’s Pride, was die Menschen in Leningrad zwischen die Zähne bekommen. Dieses Brot« – er nimmt eine Scheibe und schreddert sie zu Krümeln wie ein Kind, das Enten füttern will – » ist zu großen Teilen aus Sägemehl hergestellt, vom Fußboden aufgekehrtem Sägemehl. Wenn man das Glück hat, in einer Fabrik zu arbeiten, stehen einem 250 Gramm in der Woche zu. Wie viel sind 250 Gramm?« Gaddis sammelt jetzt sechs Scheiben Brot von der Tischplatte auf und reicht sie einem Studenten in der ersten Reihe. » Ungefähr so viel. Aber Sie arbeiten nicht in einer Fabrik«, – drei Scheiben nimmt er wieder zurück –, » also bekommen Sie nur 125 Gramm.«
    » Und ich rate Ihnen, nicht jung zu sein«, fährt er fort, inspiriert von Neil Kinnock, einem Politiker, an den sich wohl nur die wenigsten seiner jungen Zuhörer erinnern. » Ich rate Ihnen, nicht krank zu werden oder alt zu werden in Leningrad im Jahre 1942. Weil Sie dann wohl oder übel«, – er greift nach den verbliebenen drei Scheiben Brot und wirft sie auf den Fußboden –, » dem Hungertod geweiht sind.« Er lässt das einsickern und holt dann zum Coup de grace aus. » Und seien Sie um Himmels willen kein Akademiker, kein Intellektueller.« Wieder das nervöse Gelächter. » Für Leute wie uns hat Genosse Stalin herzlich wenig übrig. Es ist seine innerste Überzeugung, dass Akademiker und Intellektuelle getrost verhungern dürfen.«
    Die schöne Frau in den kniehohen Stiefeln beobachtete ihn aufmerksam. Im UCL lässt Gaddis an dieser Stelle immer einen Freiwilligen die Schuhe ausziehen, die er dann auf den Tisch vor dem Auditorium stellt. Anschließend zieht er Baumrinde und Grasbüschel aus der Jackentasche. Wenn die Hygiene- und Sicherheitsvorschriften es zulassen würden, käme er sogar mit einer toten Ratte und einem Hund im Gepäck in die Vorlesung. Weil sich die Leningrader mit so etwas am Leben hielten, als die Deutschen die Schlinge noch fester zuzogen: Gras und Rinde; weichgekochtes Schuhleder, das Fleisch von Ungeziefer, Hunden und Katzen. Selbst Kannibalismus war an der Tagesordnung. Kinder verschwanden. Leichen, die tiefgekühlt in den Straßen lagen, fehlten plötzlich Gliedmaßen. Die Streichwürste, die es auf den Märkten des kriegsgeschundenen Leningrads zu kaufen gab, konnten von Pferdefleisch bis zum Fleisch menschlicher Wesen so ziemlich alles enthalten.
    Aber an diesem Abend ließ Dr. Gaddis die Kirche im Dorf. An diesem Abend sprach er über Platows Tante und Kusine ersten Grades, die drei Jahre in einem deutschen Konzentrationslager im Baltikum überlebt hatten. Er erzählte, dass Platows Mutter einmal vor Hunger das Bewusstsein verloren hatte und selig lächelnd erwachte, als sie schon auf dem Weg zum Friedhof war, weil die Männer sie für tot gehalten hatten. Gegen acht las er eine kurze Passage aus dem neuen Buch über Platows frühe Jahre beim KGB vor, um Viertel nach acht applaudierten die Leute, und er nahm Fragen aus dem Publikum
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