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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums
Autoren: Anne de Witt
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wie jenen schrecklichen Offizier, der immer puterrot vor Zorn zu sein scheint, oder einen Säufer wie den Sohn des Senators, aber im Großen und Ganzen sind sie wie Hähne, die alle laut krähen und heftig scharren und sich doch nicht voneinander unterscheiden. Dörte Fendrichs sagt, ich hätte kein weibliches Herz, dass ich so gleichgültig bin.«
    »Kein Herz! Mein gutes Kindchen und kein Herz! Was für ein Unsinn!« Die Alte zog ihren Stuhl an den Bettrand, ergriff Anna Lisas kalte Hände und rieb sie, wie sie es in ihrer Kindheit getan hatte, wenn das zarte Kind in dem mächtigen Alkovenbett fröstelte. Dann änderte sich plötzlich ihr Ton, und sie sprach Anna Lisa als Erwachsene an. »Fräulein, ich weiß, was Ihre Freundin damit andeuten will, aber glauben Sie mir: Dass Sie zurzeit kein Interesse an Männern haben, heißt nicht, dass das immer so bleiben wird. Sie sind noch sehr jung. Es ist nicht gut, dass man heutzutage Mädchen in Ihrem Alter schon drängt, zu heiraten, aber die Welt, in der wir leben, ist nun einmal, wie sie ist, und Ihr Herr Vater hat recht: Wenn Sie jetzt keinen Mann wählen, werden Sie vielleicht später überhaupt keinen bekommen. Das ist auch kein schönes Schicksal.«
    Anna Lisa nickte. Sie kannte einige dieser alten Jungfern, die ungeliebt, ausgenutzt, widerwillig geduldet am Rande der Großfamilien dahinvegetierten. Man nahm sie jederzeit nach Belieben in Anspruch, rechnete ihnen aber jeden Bissen Brot vor. Hielten sie ihre Einsamkeit nicht aus, galten sie rasch als liederliche Personen. Lebten sie ihren jungfräulichen Stand mit aller Konsequenz, ignorierte man sie völlig. Nein, Elsa hatte recht, und ihr Vater hatte recht. An einer Ehe führte kein Weg vorbei. Wenn sie in der Gesellschaft etwas gelten wollte, musste sie verheiratet sein.
    »Es ist schon gut, Elsa«, sagte sie ein wenig schuldbewusst, als sie sah, wie die Greisin in der klammen Nachtluft fröstelte. »Geh nur wieder schlafen. Es war nichts weiter als ein dummer Traum. Ich hätte dich nicht aufschrecken sollen.«
    Elsa widersetzte sich erst, aber sie war in einem Alter, in dem man es nicht mehr leicht nimmt, unvermittelt aus dem Schlaf gerissen zu werden und Nachtwache zu halten. Also gab sie zuletzt nach, streichelte Anna Lisa das Haar und wünschte ihr eine gute Nacht.
    Das Mädchen lag noch eine Weile wach. Ein Detail des Traums war ihr wieder eingefallen, über das sie jetzt nachdachte. Die unsichtbare, nach Schokolade duftende Person an ihrer Seite hatte ihr zugeflüstert, in Holland sei es Sitte, auch den Bräutigam zu verschleiern. Es war also der junge Mann aus Amsterdam, der im Traum ihr Bräutigam gewesen war: Simeon Vanderheyden, Sohn eines schwerreichen Kaffee- und Kakaohändlers, dem mehrere Kaffeeplantagen in Java gehörten. Den Vater kannte sie; er war zwei oder drei Mal kurz zu Besuch gewesen, um neue Geschäfte zu besprechen, wenn eines der Lobrecht’schen Handelsschiffe von seiner Fahrt zu den Gewürzinseln nach Hamburg zurückkehrte. Sie hatte ihn als plumpen, protzig gekleideten Menschen in Erinnerung, dessen possierlich schnarrender Akzent sie amüsiert hatte.
    Ein Glück, dass Simeon äußerlich nicht nach seinem Vater geraten war! Er musste eine sehr schöne Mutter gehabt haben. Auf der Fotografie, die man ihr übergeben hatte, stand er im Studio des Fotografen vor einem Hintergrund mit gemalten Palmen, auf eine Säule aus Papiermaschee gestützt, zu Füßen einen riesigen, wie ein Leopard gefleckten Fila Brasileiro, ein brasilianischer Mastiff, der wohl auch zu den Requisiten des Fotografen gehörte. In den Augen der meisten Frauen war Simeon gewiss ein sehr ansehnlicher Mann: ein hochgewachsener, etwas schmalbrüstiger Jüngling mit weichem, tabakbraunem Haar, einem gepflegten kurzen Bart und vornehmen Gesichtszügen. Nur seine Augen waren ihr merkwürdig erschienen – entweder schielte er und suchte es zu verbergen, oder er wollte nicht angesehen werden, nicht einmal von der Linse einer Kamera. Sie wusste nicht recht, wie sie diesen Blick nennen sollte. Scheu. Verschlagen. Unsicher. Der Blick eines Mannes, der sich von etwas Unsichtbarem verfolgt und bedroht fühlte.
    Er sei wahrscheinlich ein wenig verrückt, hatte Dörte vermutet.
    Elmer Lobrecht nahm sich nur selten die Zeit, ein längeres Gespräch mit seiner Tochter zu führen. Er hätte auch nicht gewusst, worüber er mit ihr reden sollte. Es war ihm schon schwer genug gefallen, mit seiner Gattin ein gemeinsames Thema abseits der
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