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Die Totensammler

Die Totensammler

Titel: Die Totensammler
Autoren: PAUL CLEAVE
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einen so heißen Tag erlebt zu haben. In den letzten vier Monaten habe ich nicht viel Sonne gesehen, und meine blasse Haut fängt bereits an zu glühen. Mit jedem Tag hinter diesen Mauern ist dieser spezielle Mittwoch in immer weitere Ferne gerückt. Im Gefängnis hat man ein völlig anderes Zeitgefühl. Vor dem Gebäude stehen mehrere Besucherautos, an einem davon lehnt ein Mann und starrt mich an. Er trägt hellbraune Hosen. Unter den Achseln seines weißen Hemdes haben sich dunkle Schweißflecken gebildet. Er hat etwas Gewicht verloren, seit ich ihn das letzte Mal getroffen habe, aber er hat immer noch die gleiche Stoppelfrisur und den gleichen Gesichtsausdruck; offensichtlich hatte er in letzter Zeit immer nur diesen einen. Mir steigt der Geruch von Rauch in die Nase, der aus der Ferne herüberweht. Ich schließe die Augen vor der Sonne und lasse sie meine Haut wärmen, bis ich es nicht mehr aushalte. Als ich sie wieder öffne, lehnte Schroder nicht mehr am Wagen. Er ist jetzt fast bei mir.
    »Schön, dich zu sehen, Tate«, sagt Schroder, und ich schüttle ihm die Hand. Sie ist heiß und schwitzig. Ich habe lange keine Hand mehr geschüttelt, trotzdem weiß ich noch, wie das geht. »Wie ist es dir ergangen?«
    »Was glaubst du wohl?«, frage ich und lasse seine Hand los.
    »Tja. Also. Ich schätze …«, sagt Schroder und bringt die Sache so auf den Punkt. Er sucht vergeblich nach Worten – da wird er nicht der Letzte sein. Ein paar entkräftete Vögel fliegen tief an uns vorbei und halten Ausschau nach einem kühleren Ort. »Ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn ich dich nach Hause fahre.«
    Neben dem Eingang steht ein weißer Minivan, seine untere Hälfte ist mit einer Dreckschicht überzogen, und die obere sieht kaum besser aus. Im Innern hocken zwei Jungs, die heute entlassen wurden, beide mit kahl rasiertem Schädel und tätowierten Tränen unter dem Auge; sie sitzen in entgegengesetzten Ecken des Vans und starren aus entgegengesetzten Fenstern, sie wollen nichts miteinander zu tun haben. Ein anderer Bursche, ein kleiner, kräftig gebauter Mann, dem sämtliche Finger der rechten Hand fehlen, sodass seine Faust wie ein Knüppel aussieht, stolziert aus dem Gefängnisgebäude, die Arme in die Hüften gestemmt, um seinen großen Brustkorb und sein noch größeres Ego zu unterstreichen. Er starrt mich einen Moment an, bevor er auf die Rückbank des Vans klettert. Ich gebe ihnen höchstens eine Woche, bis sie alle wieder hier landen.
    Vier von uns werden heute entlassen, und ich war nicht begeistert von der Aussicht, mit einem von ihnen zwanzig Minuten im selben Fahrzeug zu verbringen. Allerdings bin ich auch nicht gerade begeistert, Zeit mit Schroder zu verbringen.
    »Das ist wirklich nett«, sage ich zu ihm.
    Wir schlendern zu seinem dunkelgrauen Zivilwagen hinüber, der von der Fahrt hierheraus mit Staub bedeckt ist. Ich steige ein, im Innern ist es noch heißer. Ich fummle an der Klimaanlage herum und schaffe es, eines der Gebläse in meine Richtung zu drehen. Im Seitenspiegel beobachte ich, wie das Christchurch Prison kleiner wird, bis es hinter einer langen Baumreihe verschwindet. Wir biegen nach rechts auf den Highway, Richtung Stadt. Dabei kommen wir an weitläufigen Feldern mit vertrocknetem Gras und Stacheldrahtzäunen vorbei. Männer auf Traktoren wirbeln Staubwolken auf, während sie sich den Schweiß der frühen Morgenstunden aus dem Gesicht wischen. Hier, abseits der Baustelle, ist die Luft klar.
    »Weißt du, was du jetzt tun wirst?«, fragt Schroder.
    »Warum? Willst du mir meinen alten Job zurückgeben?«
    »Klar doch, die Leute wären begeistert.«
    »Dann werd ich Farmer. Scheint ein recht angenehmes Leben zu sein.«
    »Ich kenne zwar keinen einzigen Farmer, Tate, aber ich bin mir ziemlich sicher, du würdest eine schlechte Figur abgeben.«
    »Ach ja? Und warum?«
    Er antwortet nicht. Er glaubt, als Farmer würde ich jede Kuh erschießen, die einer anderen Kuh etwas zuleide tut. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich sieben Tage in der Woche mit einem Traktor herumfahre und Kühe von einer Weide auf die andere treibe, doch so sehr ich mich auch anstrenge, es will mir einfach nicht gelingen. Je näher wir Richtung Stadt kommen, desto dichter wird der Verkehr.
    »Pass auf, Tate, ich hab nachgedacht, und allmählich sehe ich die Dinge in einem etwas anderen Licht.«
    »Inwiefern?«
    »Diese Stadt. Die Gesellschaft, keine Ahnung. Was sagst du immer über Christchurch?«
    »Es ist erledigt«,
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