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Die Toten von Bansin

Die Toten von Bansin

Titel: Die Toten von Bansin
Autoren: Elke Pupke
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auffällt. »Hat Anne euch erzählt, dass ich aus dem Bus gefallen bin? Na ja, wär ja auch ein Wunder, wenn ich mich mal nicht blamiert hätte. Ist aber nichts weiter passiert. Weißt du, was das Schönste an diesem Job ist?«, wendet sie sich eifrig an Anne, »Ich steige abends aus und sehe die Leute nie wieder. Da ist es nur halb so peinlich, wenn einmal was schiefgeht.«
    Alle lachen. Inka Weber ist für ihre Missgeschicke bekannt. Nicht nur, dass sie häufig stolpert, gegen Hindernisse läuft oder etwas umstößt, meist sagt sie das Falsche oder auch das Richtige zu den falschen Leuten.
    Gerade hat sie eine gut bezahlte Stelle an der Rezeption eines Hotels verloren. Sie war noch in der Probezeit, hatte Spaß an der Arbeit und war überzeugt, hier den Job für die nächsten Jahre gefunden zu haben. Ihre freundliche, offene Art kam bei den Gästen an und auch mit den Kollegen verstand sie sich gut. Nur der Chef war von ihrer Plapperei nicht sehr angetan. In ziemlich scharfem Ton wies er sie an, etwas mehr Distanz zu den Kunden zu wahren und sich stattdessen auf den Computerbildschirm zu konzentrieren, um Flüchtigkeitsfehler zu vermeiden. Inka fühlte sich gekränkt. In einer E-Mail teilte sie einem befreundeten Kollegen von zu Hause aus mit, was sie von der Arbeit des Hoteldirektors im Allgemeinen und seinem Umgang mit Angestellten im Besonderen hielt. »Außerdem trägt er hässliche Krawatten«, machte sie sich abschließend Luft. Sie wusste, dass der Kollege am Abend Dienst an der Rezeption tat und die Mitteilung erhalten würde, aber nicht, dass ihr gemeinsamer Chef hinter ihm stand und mitlas. Fröhlich wie immer trat sie am nächsten Morgen ihren Dienst an. Gegen Mittag kam der Chef an die Rezeption. »Guten Tag, Herr Brinkmann«, grüßte sie höflich. Auffallend freundlich erwiderte er den Gruß und wartete, bis die Gäste, die einen Schlüssel abgaben, aus der Tür gingen. »Frau Weber«, hatte er dann begonnen. »Sie sind ja noch in der Probezeit. Wie ich gehört habe, sind Sie pünktlich, freundlich und wie ich seit gestern Abend weiß, sagen Sie auch gern direkt ihre Meinung. Sie sind ehrlich, Sie sind mutig – und Sie sind entlassen.«
    Daraufhin hatte er ihr zugenickt und war weggegangen. Wie all ihre Missgeschicke nahm Inka den Vorfall mit Humor: »Auf Dauer wäre ich mit dem sowieso nicht klar gekommen.«
    Es war Sophies Idee gewesen, dass Inka bei Anne als Reiseleiterin arbeiten könnte, die im Tourismusgeschäft selbständig ist. Inka war schnell begeistert. Anne zunächst weniger, doch sie hatte sich von ihrer Freundin breitschlagen lassen. »Da hast du mir ja wieder eine Made in den Speck gesetzt«, maulte sie Sophie an. Die hatte gelacht: »Was hab ich?« – »Oder so ähnlich«, hatte Anne ergänzt. Noch eine halbe Stunde danach hatte Sophie überlegt, wie die Redensart eigentlich richtig heißt.
    Niemand fühlt sich schuldig. Sie haben es einfach vergessen. Sie wissen es doch alle! Sie waren alle dabei und leben einfach so, als wäre nichts geschehen. Sie haben Menschenleben zerstört, eine ganze Familie.
    Dieser Mann da, wie freundlich er ist und wie ruhig. Damals war er nicht ruhig. Er hat gezittert, weil er maßlos war. Niemand wirft es ihm noch vor. Sie gehen zu ihm, sie mögen und sie vertrauen ihm. Nein, ihn werde ich nicht ermorden. Er hat versucht, zu helfen. Seine Gier hatte Schuld, also soll auch er daran zugrunde gehen. Er wird wieder versagen. Dann werden sie sich erinnern und erkennen: er muss bestraft werden!
    Sonntag, 7. Oktober
    Der schlanke, fast hagere Mann keucht, als er die letzten Meter auf dem Waldweg zu seinem Auto zurücklegt. Völlig erschöpft stützt er sich über der Fahrertür des dunkelblauen Golf ab, beugt sich vor und ringt nach Atem. Er bleibt noch eine Weile stehen, bis das Rauschen in den Ohren nachlässt und er wieder Vogelstimmen hört und das Rascheln im Unterholz. Sicher gibt es hier Wildschweine.
    Tief atmet er noch einmal ein und sieht sich um. Er liebt den Wald zu jeder Jahreszeit, aber besonders jetzt im Herbst, wenn es nach Pilzen riecht und sich die Blätter färben. Hier findet er Ruhe, auch wenn später der Nebel alle Geräusche dämpft oder der Novembersturm die hohen Kiefern zum Ächzen und Knarren bringt. Im Winter verschlingt der Schnee alle Laute des Waldes und er
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