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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez
Autoren: Sam Hawken
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neu. Vor fünf Jahren war er mit einem schiefergrauen Buick von El Paso hierhergefahren und hatte ihn für hundert Mäuse und etwas mexikanischen Stoff verkauft. Da war Kelly schon so kaputt gewesen, dass ihm der
culero
nur die Hälfte des vereinbarten Preises bezahlt und er es erst bemerkt hatte, als es zu spät gewesenwar. Und darum ging er jetzt zu Fuß, die Tasche auf dem Rücken, und hielt das geschwollene Gesicht gesenkt.
    Zwei Häuserblocks weiter blieb er stehen und beschloss, etwas von seinem Geld auszugeben. Eine kleine Bar, aus deren Musikbox
norteño
schallte, lockte Kelly hinein. Er trank sechs Flaschen Tecate, das linderte die Schmerzen ein wenig. Der Alkohol brannte auf einer Wunde in seinem Mund. Er war der einzige weiße Mann in der Bar, alle anderen waren Bohnenfresser, die mit ihren bloßen Händen in der Sonne oder mit Maschinen in den
maquiladoras
arbeiteten. Sie beachteten Kelly gar nicht, was ihm nur recht war.
    »Oye«,
fragte Kelly den Barkeeper. »Weißt du, wo ich etwas
motivosa
finden kann?
Entiende?
«
    Der Barkeeper wies ihm den Weg mit dem Finger. Die Bar war lang und schmal, Ketten von Weihnachtslichtern mit großen Glühbirnen bildeten den größten Teil der schummerigen Beleuchtung. Plakate für die
corridas,
die Stierkämpfe, hingen an den Wänden, zusammen mit Bildern und Nummernschildern und allem, was man an einem Nagel aufhängen konnte. Nischen mit hohen Rückenlehnen erstreckten sich bis zu den
baños.
    Kelly sah in jede Nische, bis jemand seinen Blicken nicht auswich. Er stellte zuerst die Tasche ab und setzte sich dann daneben.
»Motivosa«,
sagte er zu der Frau.
    »Wie viel suchst du?«, fragte die Frau. Sie war dick und trug keinen BH, dafür aber ein unvorteilhaftes rosa Oberteil, das zu viel Arm und Halsansatz zeigte.
    Kelly legte zwei von Ortíz’ Zwanzigern auf den Tisch. »So viel.«
    Die Frau nahm Kellys Geld und steckte es in die Bluse. Dann zauberte sie ein flaches Plastiktütchen Gras unter dem Tisch hervor. Kelly steckte es weg. »Du bist der weiße Mann, den sie gern in
el boxeo
verprügeln, hm?«, fragte die Frau.
    »Und wenn?«, fragte Kelly.
    »Wenn du das nächste Mal hier bist, komm zu mir.«
    »Wozu?«
    Die Frau lächelte. Sie hatte ebenmäßige weiße Zähne. Kelly begriff, dass sie unecht waren. »Ich mag
boxeadores
«, sagte sie. »Wenn du das nächste Mal herkommst, verwöhne ich dich ein bisschen zur Entspannung.«
    Kelly stand auf. »Dafür habe ich das Gras.«
     
    Kelly Courter war kein gutaussehender Mann. Er hatte schon hässlichere gesehen, innerhalb wie außerhalb der Kämpferszene, aber ein Model war er nicht gerade, was ihn allerdings nicht weiter störte. Kellys Nase hatte einen Höcker und stand etwas schief. Auch ohne Veilchen sah er immer müde aus, weil er sich immer müde fühlte; sein Körper war älter als er selbst.
    Mit dreißig kam er sich wie ein Großvater vor, wenn er morgens aus dem Bett stieg – nichts als Schmerzen, ächzende Gelenke, verkrampfte Muskeln –, und am Tag nach einem Kampf fühlte er sich noch schwächer. Er war zu dick, und die Haare fielen ihm aus, daher rasierte er sich einmal im Monat Gesicht und Kopf und ließ ansonsten alles wachsen.
    Er lebte in einem Apartmenthaus zehn Minuten vom Grenzübergang nach Texas entfernt. Nur wenige Meilen, eine Polizeisperre und ein meistens ausgetrocknetes Flussbett trennten Ciudad Juárez von El Paso. Wenn er mit geschlossenen Augen in Juárez auf einer Straße stand, nur den spanischen Worten und dem Verkehrslärm lauschte und den Abgasgestank roch, konnte er sich leicht vorstellen, dass es sich um die gleiche Stadt handelte, aber Kelly ging nie in den Norden.
    Ein Balkon aus Beton gehörte zu seinem Apartment. Dort hatte Kelly einen schweren Sandsack hängen, benutzte ihn aber so gut wie nie. Für Ortíz’ Kundschaft musste er nicht in Form sein oder seine Fähigkeiten verbessern, er musste nur mit dem mehr oder weniger richtigen Gewicht erscheinen und sich zusammenschlagen lassen. Das schaffte er. Das war ihm geblieben.
    Er verstaute seine Sachen im Schlafzimmer und ging, da es windstill war, auf den Balkon, um sich eine Tüte zu drehen. Dort saß er, mit einem gesprungenen Teller als Aschenbecher, in einem alten Klappliegestuhl und hatte eine wunderbare Aussicht auf eine
maquiladora,
die Autositze fürGM herstellte. Tag und Nacht kamen die Sitze vom Fließband und wurden für den Rücktransport über die Grenze in Lkw-Container verladen. Die Löhne begannen bei einem
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