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Die Todesliste

Die Todesliste

Titel: Die Todesliste
Autoren: Frederick Forsyth
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begegnet war, einen Besuch ab. Professor Khaled Abdulasis lehrte an der al-Azhar-Universität, einem der größten Zentren für Koranstudien in der gesamten islamischen Welt. Gelegentlich hielt er Gastvorträge an der American University. Er empfing den jungen Amerikaner in seinem Büro auf dem al-Azhar-Campus.
    »Warum haben sie das getan?«, fragte Kit Carson.
    »Weil sie euch hassen«, sagte der alte Herr ruhig.
    »Aber warum? Was haben wir ihnen getan?«
    »Ihnen persönlich? Ihren Familien? Ihren Ländern? Nichts. Außer vielleicht, dass Sie dort Dollars verteilt haben. Doch darum geht es nicht. Beim Terrorismus geht es darum nie. Bei Terroristen, sei es al-Fatah oder der Schwarze September oder die neue, vorgeblich religiöse Variante, stehen Wut und Hass an erster Stelle, und erst danach kommt die Rechtfertigung. Bei der IRA ist es Patriotismus, bei den Roten Brigaden Politik, bei den salafistischen Dschihadisten die Frömmigkeit. Eine vorgebliche Frömmigkeit.«
    Der Professor bereitete Tee für zwei auf einem kleinen Gaskocher zu.
    »Aber sie behaupten, sie folgten den Lehren des heiligen Koran. Sie behaupten, sie gehorchten dem Propheten Mohammed und dienten Allah.«
    Der alte Gelehrte lächelte, während das Wasser heiß wurde. Die Einfügung des Wortes »heilig« vor »Koran« war ihm nicht entgangen. Eine Höflichkeit, aber eine wohltuende.
    »Junger Mann, ich bin, was man einen Hafis nennt. Das ist jemand, der alle 6236 Verse des heiligen Koran auswendig kennt. Anders als Ihre Bibel, die Hunderte von Autoren hat, wurde unser Koran nur von einem geschrieben – genauer gesagt, diktiert. Und doch gibt es Passagen, die einander scheinbar widersprechen. Die Dschihadisten reißen einen oder zwei Sätze aus dem Zusammenhang, verzerren sie noch ein wenig mehr und tun dann so, als hätten sie eine göttliche Rechtfertigung für ihr Tun. Nur haben sie die nicht. Nirgends in unserem heiligen Buch findet sich die Verfügung, wir sollten Frauen und Kinder abschlachten, um den zu erfreuen, den wir Allah nennen, den Barmherzigen, den Mitfühlenden. So verfahren alle Extremisten, auch die christlichen und die jüdischen. Wir wollen unseren Tee nicht kalt werden lassen. Man soll ihn kochend heiß trinken.«
    »Aber, Professor, diese Widersprüche. Hat man sich nie mit ihnen befasst, sie erklärt, sie begründet?«
    Der Professor schenkte dem Amerikaner mit eigener Hand Tee nach. Er hatte Personal, doch es gefiel ihm, dies zu einer persönlichen Handreichung zu machen.
    »Ständig. Seit dreizehnhundert Jahren studieren Gelehrte dieses eine Buch und verfassen Kommentare dazu. Zusammen heißen sie Hadith, und es sind ungefähr hunderttausend.«
    »Haben Sie sie gelesen?«
    »Nicht alle. Dazu wären zehn Menschenleben nötig. Aber viele. Und zwei habe ich geschrieben.«
    »Einer der Bombenleger, Scheich Omar Abdel Rahman, den sie den blinden Kleriker nennen, war … ist … auch ein Gelehrter.«
    »Ein Gelehrter auf Irrwegen. Das gibt es in jeder Religion.«
    »Aber ich muss Sie noch einmal fragen: Warum hassen sie uns?«
    »Weil Sie nicht sie sind. Sie empfinden eine tiefe Wut auf alles, was nicht sie ist. Juden, Christen, diejenigen, die wir kuffar nennen – die Ungläubigen, die sich nicht zum einen wahren Glauben bekehren wollen. Jedoch auch diejenigen, die ihnen nicht muslimisch genug sind. In Algerien metzeln die Dschihadisten ganze Dörfer der Fellachen nieder, Bauerndörfer mit Frauen und Kindern, und sie tun es in ihrem heiligen Krieg gegen Algier. Denken Sie immer daran, Lieutenant, zuerst kommen Wut und Hass, dann kommt die Rechtfertigung, die Pose der tiefen Frömmigkeit, nur ist das Heuchelei.«
    »Und Sie, Professor?«
    Der alte Herr seufzte.
    »Ich hasse und verachte sie. Denn sie nehmen das Angesicht meines geliebten Islam und präsentieren es der Welt von Wut und Hass verzerrt. Aber der Kommunismus ist tot, der Westen schwach und mit sich selbst beschäftigt und von Vergnügen und Habgier getrieben. Es wird viele geben, die auf die neue Botschaft hören werden.«
    Kit Carson sah auf die Uhr. Bald war es Zeit für die Gebete des Professors. Er stand auf. Der Gelehrte bemerkte auch diese Geste und lächelte. Er erhob sich ebenfalls und begleitete seinen Gast zur Tür. Als der Amerikaner hinausging, rief er ihm nach.
    »Lieutenant, ich fürchte, mein geliebter Islam tritt in eine lange dunkle Nacht ein. Sie sind jung, Sie werden ihr Ende sehen, inschallah . Ich bete, dass ich sie nicht miterleben
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