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Die Time Catcher

Die Time Catcher

Titel: Die Time Catcher
Autoren: Richard Ungar
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wieder richtig bei mir.
    Endlich beginnt mein Körper, auf mein Gehirn zu hören. Ich mache ein paar Schritte nach vorn und schrecke einige Tauben auf, die sich um einen Mann geschart haben, der sie mit Teigtaschen füttert.
    Etwas knackt unter meinen Füßen. Es sind die Überreste eines indischen Abendessens. Aber das ist längst nicht alles. Überall liegt Müll herum. Man muss sich wirklich wundern, was die Leute so alles wegwerfen. Nur wenige Schritte von mir entfernt sehe ich beispielsweise eine bestens erhaltene Kaffeemaschine, eine kaum benutzte chinesische Blindenschrifttastatur sowie ein weinrotes Zweiersofa, der Stoff vielleicht ein wenig verblasst, ansonsten jedoch hervorragend in Schuss.
    Der Gestank ist schrecklich. Wenn der Müllstreik nicht bald beendet wird, muss ich mir eine dieser Gesichtsmasken zulegen, die mit künstlichem Kiefernduft parfümiert und in New Beijing inzwischen der letzte Schrei sind. Doch ich sollte mich nicht beklagen. Wenn ich die Wahl hätte, entweder einen stinkenden Bürgersteig in New York entlangzuspazieren oder mich auf einem Hausdach mit bewaffneten chinesischen Soldaten herumschlagen zu müssen, wäre meine Wahl eindeutig.
    Eine große Werbeanzeige für East-West-Jeans ruft mir mit lauter Stimme entgegen: »S itzt so perfekt wie eine zweite Haut.« Eine andere fragt mit zarter Stimme: »W ie wär’s mit einem Schuss Koffein?« Ihr könnt mich ruhig unsozial nennen, aber ich lege echt keinen Wert darauf, mit Werbetafeln zu kommunizieren.
    Genauso wenig, wie ins Hauptquartier zurückzukehren. Das wird so oder so sehr unangenehm für mich werden. Warum also beeilen?
    Statt die Straße zu überqueren, steuere ich direkt auf die Chi-Box zu, die sich auf meiner Seite des Bürgersteigs befindet. Solche Boxen schießen in ganz Manhattan wie Pilze aus dem Boden, seit das Große Freundschaftsabkommen zwischen China und den USA unterzeichnet wurde. Ich kenne nur wenige chinesische Wörter, doch chi bedeutet so viel wie »L ebensenergie«. Der Sinn dieser Boxen besteht darin, jeden Kunden mit neuer Lebensenergie zu versorgen, damit dieser sich für den Rest des Tages frisch und entspannt fühlt. Wie alles andere in New Beijing ist auch eine Portion Lebensenergie natürlich nicht billig – für eine halbstündige Behandlung muss man um die tausend Dollar springen lassen. Doch glücklicherweise bin ich nicht nur ein Dieb, sondern auch fähig, Sicherheitssysteme außer Kraft zu setzen und Zahlungskontrollen zu manipulieren.
    Ich betrete die Box von der Größe einer Telefonzelle und schließe die Tür hinter mir. Mit ein paar Sprachbefehlen umgehe ich das Sicherheitssystem und überzeuge den Computer davon, dass ich bereits bezahlt habe.
    Nach wenigen Sekunden meldet sich eine samtweiche Stimme: »H allo, Robert! Schön, dass du eine Chi-Pause gewählt hast. Möge der Atem des Windes sanft in deinen Ohren klingen. Wofür hast du dich entschieden?«
    Robert ist der Name, den ich in der Öffentlichkeit benutze oder wenn ich etwas tue, das nicht hundertprozentig legal ist. Abbie hat ihn für mich ausgesucht. Sie sagt, ich sehe aus wie ein Robert, was immer das heißen mag. Mittlerweile habe ich mich sogar an ihn gewöhnt. Ich hoffe nur, dass sich niemand die Freiheit nimmt, den Namen in Roberto oder noch schlimmer: in Robbie abzuwandeln.
    Für einen Augenblick überlege ich, diesmal eine andere Wahl zu treffen als sonst. Denn wie viel Bergwiesenduft kann eine einzige Person auf Dauer ertragen?
    »B ergwiese, bitte«, sage ich.
    »E ine ausgezeichnete Wahl. Genieße deine Chi-Pause, Robert!«, antwortet die Computerstimme. Das Licht geht aus, und im nächsten Moment atme ich frische Bergwiesenluft ein. Natürlich wird dieser Duft künstlich erzeugt, doch alles sieht völlig real aus, bis hin zu den Tautropfen, die an den Spitzen der langen Gräser haften, die sich sanft hin und her wiegen. Wenn ich das eine Stunde lang erlebe, werde ich total entspannt sein.
    Aber ich habe keine Stunde, sondern nur zehn Minuten gebucht – gerade mal lang genug, um sich ansatzweise zu erholen. Ich würde ja gern länger bleiben, doch sollte ich lieber ins Hauptquartier zurückkehren und Bericht erstatten. Falls ich mich sehr verspäte, wird Onkel mich umbringen. Nun, vielleicht nicht wirklich umbringen, sondern höchstens ein bisschen foltern. Ja, genau. Die gute alte chinesische Wasserfolter zu Ehren der Großen Freundschaft.
    Ich zwinge meine Schultern, sich zu entspannen.
    Eine Erinnerung steigt in
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