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Die Sturmrufer

Die Sturmrufer

Titel: Die Sturmrufer
Autoren: blazon
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schnappte sie instinktiv nach Luft – und spürte, wie das Salzwasser sich einen brennenden Weg in ihre Lunge bahnte. Das Knochige fand ihr Haar, tastete über ihr Gesicht, ihren Hals – und packte sie an ihrem Ärmel. Sie wurde nach oben gezogen.
    Kälte strich über ihr Gesicht. Licht über ihren blinzelnden Augen. Stein schrappte über ihre Knie und Rippen. Dann wurde ihr Körper schwer, jemand drückte mit aller Kraft gegen ihren Brustkorb. Sie hustete und würgte. Salziges Wasser lief aus ihrer Nase. Nur allmählich begriff sie, dass sie wieder Luft atmete. Endlich Luft! Zwischen ihren Zähnen knirschte Sand. Benommen richtete sie sich auf und blickte sich um.
    Nun konnte sie die Leute sehen, die mit ihr im Keller gesessen hatten: ein weiterer Seiler, zwei Frauen in blauen Tüchern und ein alter Mann mit gebräunter Haut und vielen Narben – vielleicht ein Fischer.
    Der ganze Marktplatz stand unter Wasser, ein gurgelndes, kochendes Becken, in dem die Seile schwammen wie Bündel von Seeschlangen. Wellen schwappten über Ambers ausgestreckte Beine, eisiger Wind kühlte Kopfhaut und Gesicht.
    »Steh auf«, brüllte Inu gegen den Wind an. Sie schämte sich plötzlich, so schwach gewesen zu sein.
    Neben ihr wand sich eine mannsgroße Mähnenschlange auf dem Steinboden. Klatschend schlug ihr Körper auf dem Pflaster hin und her, schlängelte sich und bog sich hoch, doch das Wasser auf dem Marktplatz war zu niedrig, um ihr genug Raum zur Flucht zu geben. Das Tier musste in die Stadt geschwemmt worden sein. War es vielleicht dieses glitschige Ding gewesen, das über Ambers Gesicht geglitten war?
    Eine kleine, drahtige Frau, der das nasse blaue Tuch am Körper klebte, zog, ohne zu zögern, ihr Fischermesser aus dem Gürtel und erlegte das Seetier mit einem fachmännischen Schnitt. Blut färbte das Wasser um Ambers Beine. Fleisch genug für zwanzig Mahlzeiten, dachte sie und dann wurde ihr übel. Erst die Nachricht von Galgen und Hinrichtungen – und jetzt das. So hatte sie sich die Stadt des Glanzes nicht vorgestellt.
    »Kannst du gehen?«, rief Inu ihr direkt ins Ohr.
    Amber wollte etwas antworten, aber der Hustenreiz machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Inu verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Eine kleine Narbe an seinem rechten Mundwinkel gab seinem Lächeln etwas Unregelmäßiges, Verschmitztes. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er gut aussah. Wie die Menschen von den Inseln hatte er eine leicht gebogene Nase und hellblaue Augen, die im Kontrast zu dem dunklen Haar leuchteten.
    »Komm!«, drängte er. »Wir müssen hier weg! Falls noch eine Welle kommt, spült sie uns bis in die Bucht.«
    Sie bahnten sich einen Weg durch schwimmende Trümmer. Das Wasser stieg wieder. Amber spürte, wie die Panik ihr wie nasser Schlick am Rückgrat hochkroch. Zerrissene Fischernetze schlangen sich um ihre Beine und brachten sie beinahe zu Fall. Zappelnde Fische umwimmelten ihre Füße. Amber stolperte über Muscheln und Holzsplitter.
    Als sie den Platz halb überquert hatten, änderte das Wasser die Richtung und zog sich plötzlich zurück, zerrte mit immer stärker werdendem Sog an ihren Hosenbeinen. Amber stolperte zum Seilerbaum in der Mitte des Platzes und klammerte sich daran fest. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Es war beruhigend, dass der Baum unverrückbar war. Unter den Steinplatten des Platzes ragten seine Wurzeln tief in die Erde. Der Marjulastamm war vom jahrelangen Reiben der Seile, die an ihm gedreht und geknüpft wurden, glatt geworden. Amber hatte Angst, ihn wieder loszulassen. Was, wenn das Meer sie mitzog – über die Straßen, hinein in die blaue Tiefe, wo die Wale schwammen und die brennenden Fische darauf warteten, ihre Haut zu versengen? Nun, wenigstens wurde der Wind schwächer und gab wieder anderen Geräuschen Raum. Zum Beispiel den Rufen, mit denen sich die Leute verständigten.
    Inu sah sich nach Amber um und bedeutete ihr mit einer energischen Geste, ihm zu folgen.
    »Wohin?«, brachte sie mühsam heraus.
    »Ich muss zum Hafen«, rief er. »Aber vorher bringe ich dich zum Haus des Fischerkönigs. Es ist das höchste Gebäude der Stadt.«
    Heftig schüttelte sie den Kopf, ohne den Seilerbaum loszulassen.
    »Geh allein! Ich muss in die Schlemmfischgasse!«
    Er runzelte die Stirn. »Zur Herberge? Gut, dann begleite ich dich bis zur Gasse!«
    »Verdammt, ich kann alleine gehen! Ich habe hierhergefunden, da finde ich auch zurück.«
    Der Seiler funkelte sie ärgerlich an.
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