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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
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eigentlich noch töten müssen, bevor ich wieder meine Messer werfen kann? Er hörte den Posten mit dem anderen sprechen. Er ist noch ein junger Bursche, dachte er. Er wird wieder dieses verfluchte, erschrockene Kindergesicht haben, wenn er stirbt. Ich kann bald keine Toten mehr sehen und keine Sterbenden. Ich sehe sie in jeder Nacht. Wenn ich bei einer von diesen dickbeinigen Dorfhuren liege, sehe ich die Leichen, und dann kichert das Mädchen und knabbert von meiner Schokolade, weil sie weiß, daß ich eine Stunde nichts sagen und nichts tun werde. Es ist der Ekel. Aber es ist nicht der Ekel allein. Es ist viel schlimmer. Man darf nicht so oft daran denken. Man hat keine Wahl mehr. Aus einem fahrenden Zug kann man nicht springen. Man bricht sich das Genick dabei. Man muß bis zur Endstation mitfahren. Es ist ein verdammt abschüssiger Weg bis zu dieser Endstation. Da kommt der Posten. So sieht ein Mensch aus, der in der nächsten Minute sterben wird. Und ich muß ihn schon allein deshalb töten, weil an der anderen Seite der Brücke Bindig hockt, denn wenn ich ihn nicht töte, dann wird er Bindig töten, und Bindig werde ich nicht im Stich lassen, weil er der einzige ist, der weiß, daß mich die Gesichter der Leichen quälen, und weil er schweigt und ich weiß, daß es ihm nicht anders geht. Er verglich noch einmal die Zeigerstellung der Uhr mit der Zeit, die er Bindig eingeprägt hatte. Es ist richtig, dachte er. Er faßte das Messer und brachte den Körper in eine Stellung, die einer gespannten Sprungfeder glich. Er war ganz ruhig dabei und bewegte die Augenlider nicht mehr, bis er den Schritt des Postens vernahm. Dann hörte er ihn leise vor sich hin summend auf den Baum zukommen.
    Bindig hockte hinter dem Busch und betrachtete den Boden vor seinem Versteck. Er war gefroren, aber es war grasbewachsener Boden, auf dem keine dürren Zweige lagen, kein Laub, nichts. Als die Posten sich in der Mitte der Brücke getroffen hatten, sah Bindig auf die Uhr. An den zehn Umdrehungen des Sekundenzeigers fehlte noch eine. Die Uhr war zuverlässig. Es war eine große Spezialuhr mit Stoppeinrichtung. Bindig verdeckte die blanke Schneide des Messers mit der flachen Hand. Der Posten kam langsam näher. Es war ein untersetzter Mann, der seine Pelzmütze keck auf die linke Seite gezogen hatte. Er trug weiter nichts als das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett. Daß sie ihre Posten immer mit dem Gewehr stehen lassen, dachte Bindig. Immer haben sie dieses lange Gewehr mit dem Vierkantbajonett. Die Maschinenpistole ist besser. Eine kurze Waffe ist überhaupt besser. Was will er schon mit dem Gewehr? Damit ist er viel zu langsam Er sah ihm direkt ins Gesicht, in ein breites, grobknochiges Gesicht mit einer lustigen Stupsnase. Zado und ich, dachte Bindig, während der Posten sich ihm näherte, sie haben uns darauf spezialisiert. Wie den Oberkellner auf das Sprengen. Wir sind eine Truppe von Spezialisten. Im Töten und im Zerstören. Ob wir uns einmal wieder daran gewöhnen werden, daß es das nicht mehr gibt? Einmal, wenn alles vorbei ist?
    Der Posten hustete leise. Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben. Bindig sah, daß er das Koppel über dem Mantel trug. Das ist gut, dachte er. Wenn sie es unter dem Mantel tragen, ist man unsicher mit dem Messer. Sie haben dicke Lederkoppel. Der Posten blieb ein paar Schritte vor dem Busch stehen und drehte sich um. Er schlug die Stiefel aneinander und ging seinen Weg zurück. Bindig erhob sich, ohne ein Geräusch zu verursachen. Er machte schnell einen Schritt an dem Busch vorbei und dann einen nächsten und noch einen. Er lief nicht; er ging schnell, mit großen Schritten, lautlos auf den dicken Gummisohlen, bis er im Rücken des Postens war. Er sprang ihn nicht an. Er legte ihm den linken Arm um den Hals und stieß mit dem rechten zu. Es war die schnellste, sicherste und leiseste Art zu töten, die er erlernt hatte. Das Messer zerriß dem Posten die Niere, und der Mann sank mit einem erstickten Schnaufer zu Boden. Bindig fing ihn geschickt auf, und dann nahm er ihm ebenso geschickt das Gewehr von der Schulter. Er zog dem Toten den dicken, braungrauen Mantel aus und warf ihn sich über. Er war ihm ein wenig zu groß, aber darauf kam es jetzt nicht an. Mit ein paar schnellen, federnden Schritten lief er an den Platz zurück, wo sein Stahlhelm lag. Er holte ihn und hängte ihn an das fremde Koppel über den Mantel. Dann setzte er die Pelzmütze des Toten auf und warf sich dessen
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