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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Sie redeten dabei, trockneten sich ab, und alles war, was es war. Bei H.sFamilie war so etwas undenkbar. Es hätte sofort eine Beklemmung über der ganzen Situation gelegen. Es war wie ein Bewußtsein dessen, was man tat, es war atmosphärisch spürbar. Die betreffende »Natürlichkeit« war in dieser Familie ganz und gar verlorengegangen. An H. selbst war etwas merkwürdig Erwachsenes. Hätten wir uns beide im Garten ausgezogen, hätten wir uns sofort auf die Schwänze gestarrt, und vermutlich hätten sie sich sofort geregt, einfach weil wir wußten, was wir taten. Vielleicht ging von H.s Eltern genau diese Atmosphäre aus. Etwas in ihrem Zusammenspiel war völlig gescheitert und lag nun im Raum und ergriff jede Möglichkeit, sich in den Anwesenden bemerkbar zu machen. Nacktheit war in dieser Familie nicht möglich, weil auf sie in einer logischen Gedankenverbindung Erregung (mit allen ihren Folgeerscheinungen wie Ekel, Lust etc.) gefolgt wäre. Ebenso gab es keinerlei Berührungen in dieser Familie. Auch darin unterschied sie sich von anderen Familien, etwa unserer Nachbarsfamilie Heussler im drittnächsten Haus. Dort erlebte ich ebenfalls eindringlich, wie stark diese »Natürlichkeit« werden konnte. Manchmal besuchte ich den Sohn der Heusslers, und wenn unten die Tür offenstand, lief ich einfach ins Haus. Es war klein, das Zimmer meines Bekannten lag im ersten Stock, gleich neben dem elterlichen Schlafzimmer. Zwei- oder dreimal sah ich den Sohn mitseiner Mutter im elterlichen Ehebett liegen, eng umschlungen, wie ich später mit Frauen dalag, da war er fünfzehn oder sechzehn, und als sie mich sahen, standen sie auf und begrüßten mich freundlich wie immer und mit ebender besagten »Normalität«. In seinem Zimmer hatte der Sohn eine kleine schwarze Figur stehen, sie sieht in meiner Erinnerung aus wie ein Priester, vielleicht trug sie auch nur einen langen schwarzen Mantel. Sie war fingergroß und aus Plastik, man konnte den schwarzen Mantel heben, dann schwang sich ein großer, roter, geschwollener Schwanz in die Höhe, pendelte herum und blieb dann stehen. Das sah ich öfter. Eigentlich hob der Nachbarssohn jedesmal, wenn ich da war, diesen Mantel und ließ den Schwanz pendeln. Das gefiel ihm. Vielleicht suchte er damit mein Einverständnis, ich weiß es nicht. Er war drei Jahre älter als ich.
    An anderen Familien wiederum wurde mir langsam klar, wie etwa die Väter mit den Töchtern umgingen und daß da oft ein ganz anderer Berührungshorizont vorlag als mit anderen Menschen. Manchmal übertrugen die Väter diese Berührungsarten auch auf die Freundinnen ihrer Töchter. Ich konnte sehen, wie die einen es über sich ergehen ließen und die anderen eine fast unmerkliche Abwehr aufbauten, und ich konnte sehen, wie der betreffende Vater dann sofort ebenso unmerklich reagierte und das Maß seiner Berührungen oder Berührungsabsichten graduell herunterschraubte, so daß zwischen beiden Parteien zwar nichts zur Sprache kommen mußte, aber doch ein ewiger Kampf ausgefochten wurde, immer wieder aufs neue. Es gehörte zum Leben der Väter dazu, die Mädchen immer wieder zu berühren, bei Begrüßungen, bei Abschieden, bei gewissen Alltagsdingen (nahmen die Mädchen zum Beispiel beim Essen mit auf der Küchenbank Platz, hob sie der betreffende Vater, ohne daß das notwendig gewesen wäre, über den eigenen Schoß und setzte sie kurz auf diesem ab, und manchmal wurden sie dabei auch von hinten umarmt), und es gehörte zum Leben der Mädchen dazu, diesem immer wieder aufs neue ausgesetzt zu sein und sich dazu irgendwie verhalten zu müssen. Wenn ein Mädchen, das zu Besuch war, gar keine Abwehrreaktion zeigte und dem Vater deshalb das Maß nicht beschränkt wurde (dann wurde das Mädchen geküßt und Du bist aber ein schönes Mädchen oder dergleichen gesagt), schritt die Ehefrau ein und senkte das Maß des Mannes wieder herunter. Das heißt, zum Leben der Ehefrau gehörte dazu, einen Mann neben sich zu haben, der sich in solchen Handlungszusammenhängen mit der eigenen Tochter und den anderen Mädchen befand. Das war alles natürlich. Natürlich wäre es vielleicht dann nicht gewesen, wenn er sich die Freunde seines Sohnes auf den Schoß gehoben hätte. So aberwar alles völlig normal und mußte eben nur auf ein bestimmtes Maß eingedämmt werden, und die Mütter legten sich zum Ausgleich dafür mittags mit ihren Söhnen ins Bett, wenn der Vater bei der Arbeit war. Es gab regelrechte Rituale bei diesem
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