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Die Stimme der Erde

Titel: Die Stimme der Erde
Autoren: Catherine Coulter
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gehen und ihn fragen, warum er und ihre Mutter ihr das antun konnten.
    Aus dem schmalen Fenster schaute Philippa auf den Innenhof der Burg Beauchamp hinunter. Der steife Ostwind brachte trostreiche Gerüche mit sich, den Geruch nach Hunden, Rindern, Schweinen und den schweißbedeckten Pferden von Lord Henrys bewaffneten Kriegern. Die Aborte befanden sich an der äußeren Westmauer der Burg, so daß der Wind heute glücklicherweise den Gestank menschlicher Exkremente von dannen trug.
    Dies war ihre Heimat. Sie hatte niemals bezweifelt, daß sie hier hingehörte. Nie wären ihr solche Gedanken gekommen. Sie hatte sich auch mit Lady Maudes Abneigung längst abgefunden. Aber nun hatte auch ihr Vater sich auf Lady Maudes Seite gestellt. Vorübergehend empfand sie tiefen Groll gegen ihre Schwester Bernice, die nur darauf aus war, die seltenen Liebesbezeugungen Lady Maudes zu ergattern, als wären eine Umarmung oder ein Kuß von ihr Schätze, die man horten müßte.
    War es, weil Philippa größer als ihr Vater war, dem die süße Weichheit Bernices fehlte? Lady Maude hatte Ivo erzählt, daß man sie die Riesin nannte. Philippa hatte das gar nicht gewußt. Nie hatte sie diese Bezeichnung bisher gehört.
    War es, weil sie als Mädchen zur Welt gekommen war und nicht als Knabe? Aber dann hätten die Eltern auch Bernice gegenüber Mißfallen zeigen müssen.
    Eine Riesin war Philippa gewiß nicht, nur etwas groß für eine Frau, sonst nichts. Sie wandte sich vom Fenster ab und schaute sich im Zimmer um.
    Es war ein behagliches Zimmer. Binsen und Kräuter bedeckten den kalten Steinfußboden. Sie mußte etwas unternehmen. Sie konnte nicht einfach hier abwarten, bis William de Bridgport kam und sie aufforderte, ihm zu folgen.
    Erst jetzt fiel Philippa etwas anderes ein. Warum hatte Lord Henry sich so viel Mühe mit ihrer Ausbildung gegeben, wenn er nichts anderes vorhatte, als sie William de Bridgport zur Frau zu geben? Seit vor zwei Jahren der alte Meister Davie an der Ruhr gestorben war, war sie Lord Henrys Verwalterin geworden und hatte ihre Kenntnisse von Tag zu Tag erweitert.
    Resigniert löste Philippa den weichen Ledergürtel, zog sich das weite, ärmellose Obergewand aus hellblauem Leinen und das lange Wollkleid aus. Einen Augenblick lang stand sie nur im weißen Leinenhemd da, das ihr bis zum halben Oberschenkel ging. Dann zog sie es sich auch über den Kopf. Sie hatte eben noch etwas anderes im Burghof bemerkt. Es waren mehrere mit Rohwolle hochbeladene Wagen, die für den Aprilmarkt in St. Ives bestimmt waren. Zwei Wagen gehörten den Pachtbauern und einer Lord Henry.
    Ein Schauder überlief sie, als sie so groß und nackt im Zimmer stand. Sie konnte nicht hier auf Beauchamp bleiben und so tun, als wäre nichts geschehen. Sie konnte sich nicht einfach in ihr Schicksal ergeben. Im Geist hörte sie schon Bernice spöttisch sagen: ... ein böser alter Mann für dich, ein hübscher junger Mann für mich. Ich bin die Lieblingstochter, und du mußt büßen, büßen ...
    Es verging kaum eine Minute, da hatte Philippa bereits ein sehr altes formloses Kleid über ein ebenso altes Hemd angezogen. Zuletzt hüllte sie sich noch in ein Obergewand, das schon so oft gewaschen worden war, daß seine Farbe mit der Zeit zu einem Grau geworden war. Die modischen spitzen Schuhe vertauschte sie mit kräftigen Stiefeln, die bis zur Wade reichten. Ihr dichtes Haar flocht sie zu Zöpfen, die sie sich um den Kopf wand. Dann stülpte sie eine Wollmütze darüber.
    Nun brauchte sie nur noch die Dunkelheit abzuwarten. In der Nähe von St. Ives lebte Lady Maudes Neffe, ihr Vetter Sir Walter de Grasse. Er war der Burgvogt von Crandall, einer Festung des mächtigen Graelam de Moreton von Wolffeton. Philippa hatte Walter nur zweimal im Leben gesehen, aber sie entsann sich, daß er freundlich zu ihr gewesen war. Zu ihm würde sie fliehen. Plötzlich sah sie zu ihrer Bestürzung, daß die Bauern und drei bewaffnete Männer ihres Vaters sich bei den Wagen sammelten. Sie wollten aufbrechen!
    Philippa geriet in Verwirrung, aber das ging schnell vorbei. Beauchamp war fast 18 Jahre lang ihre Heimat gewesen. Sie kannte hier jeden Winkel und jede Nische. Leise schlüpfte sie aus dem Zimmer und schlich die ausgetretene Treppe in den großen Saal hinab. Sie vergewisserte sich, daß niemand auf sie aufmerksam geworden war, und entkam dann durch die großen offenen Eichentüren in den Innenhof. Von hier rannte sie zu der verborgenen Geheimtür in der Mauer und
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