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Die Stadt der Verlorenen

Die Stadt der Verlorenen

Titel: Die Stadt der Verlorenen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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auch
einschlief. Zum Leben in der Strafkolonie Lemuras gehörte das
praktisch dazu.
    Was nicht immer dazugehörte, das war der Anblick eines
pelzigen runden Gesichts, das sich unmittelbar vor dem
seinen befand und ihn aus einem einzelnen,
bernsteingelben
Auge anstarrte.
    Mike fuhr mit einem keuchenden Schrei in die Höhe
und
sank gleich darauf mit einem zweiten Schrei wieder zurück,
denn er war nicht nur in Ketten, sondern diese Ketten waren
zusätzlich an einem schweren Eisenring im Boden angebracht,
sodass er mit einem harten Ruck zurückgerissen wurde.
    Er bemerkte den Schmerz kaum, sondern starrte das Pelztier
vor sich aus hervorquellenden Augen und mit
klopfendem
Herzen an und einen Moment später erklang hinter seiner Stirn
eine Stimme:
    Wenn du noch ein bisschen lauter schreist, bekommen wir bald
Besuch.
Es war dieselbe spöttische Stimme, die er schon einmal
gehört hatte. Und diesmal konnte er sich nicht einreden, sie
sich nur eingebildet zu haben.
»Was ...«, keuchte er. »Wer bist du? Was willst du von mir?!«
Nicht so laut! sagte die Stimme in seinem Kopf noch einmal. Wieso schreist du hier so rum? Willst du unbedingt die Wachen
alarmieren?
»Du sprichst mit mir?«, sagte Mike verstört – zwar leiser, für
den Geschmack des Felltiers aber offensichtlich immer noch
zu laut, denn es brachte das Kunststück fertig, sein pelziges
Gesicht zu einer fast menschlich wirkenden Grimasse zu
verziehen.
Verdammt noch mal, du sollst nicht so schreien!
Draußen steht eine Wache! Du musst nicht laut reden. Es reicht
vollkommen, wenn du nur denkst!
»Nur ... denken?«, murmelte Mike. »Du ... du meinst,
du
kannst meine Gedanken lesen?«
Jeder in ganz Lemura kann sie hören, wenn du noch ein
bisschen lauter wirst, flüsterte die spöttische Stimme hinter
seinen Schläfen. Hast du denn alles vergessen, um Gottes willen?
»Vergessen? Aber ... aber was denn?«, flüsterte Mike. Diesmal
hörte er etwas wie ein gedankliches Seufzen.
Ja, du hast alles vergessen. Na, das kann ja heiter werden. Da
suche ich monatelang nach dir und dann finde ich einen halb
toten Dummkopf, der weniger Grips als eine Mohrrübe in der
Birne hat. Was haben sie mit dir gemacht? Dir auch noch das
letzte bisschen Verstand aus der Rübe geprügelt?
Vielleicht stimmte das sogar. Mike war nämlich gar nicht
sicher, ob er das alles wirklich erlebte oder ob er vielleicht im
Fieber dalag und fantasierte. Nicht nur, dass er sich Auge in
Auge mit einem Geschöpf sah, von dem in ganz Lemura noch
nie jemand gehört hatte – dieses Wesen sprach auch noch mit
ihm! Das war vollkommen unmöglich!
Ich dachte, das hätten wir schon seit ein paar Jahren hinter
uns, seufzte das Felltier. So, und jetzt reiß mal deine letzten fünf
Gehirnzellen zusammen und hör mir genau zu. Wir haben
nämlich eine Menge zu besprechen und nicht sehr viel Zeit. Ich
würde dich ja befreien, auch wenn du es bestimmt nicht verdient
hast, aber ich fürchte, ich kriege die Ketten nicht auf.
Es war seltsam: So unglaublich Mike die Situation
auch
vorkam ... Irgendwie hatte sie trotzdem etwas Vertrautes. Und
er hatte nicht die Spur von Angst vor diesem Geschöpf und das
war eigentlich das Seltsamste überhaupt, denn wenn man auf der
untersten Ebene Lemuras eines lernte, dann, allem Unbekannten
zu misstrauen und lieber einmal zu oft Angst zu
haben, als
einmal zu wenig. Wenn man gegen diesen ehernen
Grundsatz
verstieß, lebte man hier nicht lange.
Stell dir vor, das habe ich auch schon gemerkt, spöttelte die
lautlose Stimme in seinem Kopf. Ich wäre ein Dutzend Mal fast
gefressen worden, während ich dich gesucht habe. Ich schätze, wir
haben da ein kleines Problem. Was zum Teufel haben sie bloß mit
dir gemacht?
»Gemacht?«, murmelte Mike. »Ich verstehe nicht, wovon du
überhaupt redest.«
Stell dir vor, das glaube ich dir auf Anhieb, höhnte das Felltier. Also los, jetzt lass uns mal überlegen, wie wir deine Ketten
abkriegen.
»Meine Ketten?«, wunderte sich Mike. »Du meinst, du ... du
willst mir helfen?«
Auch wenn du es nicht verdient hast.
»Aber warum?«, fragte Mike. »Ich meine ... auch ohne Ketten
– wo sollte ich denn hin?«
Na, weg von hier, Dummkopf! sagte das Felltier.
»Weg? Du meinst weg von dieser Ebene?« Mike schüttelte
verwirrt den Kopf. »Und dann?«
In dem runden Pelzgesicht war tatsächlich ein Ausdruck
von Fassungslosigkeit zu sehen. Hätte das Felltier zwei Augen
besessen, Mike war sicher, es hätte sie verdreht. Au
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