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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition)
Autoren: Olen Steinhauer
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erschien jeweils früh am Morgen mit einem tragbaren Rekorder, während Hector Garza in seinem Hotelzimmer blieb oder durch die Einkaufsstraßen schlenderte und gelegentlich sogar ein Hemd erstand. Erika wunderte sich. Sie hatte eher mit Garza als mit Jones gerechnet. Schließlich hatten sie keine Ahnung, wie Stanescu zu Farbigen stand und wie er damit zurechtkam, wenn ihn eine Frau vernahm. Doch Leticia Jones sprach nicht nur fließend Deutsch, sondern hatte obendrein eine erstaunlich herzliche Ausstrahlung, die den Befragten zu mehr als nur einsilbigen Antworten ermunterte.
    Faszinierend war die Vernehmung auch deshalb, weil Andrei Stanescu nur ungefähr eine Stunde in der Gesellschaft des chinesischen Agenten verbracht hatte. Was konnte er schon über Xin Zhu wissen? Dieser Umstand war Leticia Jones vor Beginn des Gesprächs nicht bekannt gewesen. Sie war lediglich darüber informiert, dass Andrei in Brooklyn von einem Angehörigen der chinesischen Botschaft, der sich Li nannte, eine Pistole bekommen hatte und dass dieser Li die Waffe auf Anweisung von Xin Zhu weitergegeben hatte. Daraus ließ sich folgern, dass Xin Zhu oder einer seiner Vertreter aus dem chinesischen Auslandsgeheimdienst Guoanbu persönlich Kontakt mit Andrei aufgenommen hatte. Jones zeigte ihm eine ganze Reihe von Fotos, bis er Li schließlich als einen gewissen Sam Kuo identifizierte.
    Nach wenigen Stunden hatten sie die Ereignisse abgehandelt, die zu dem Mordversuch an Milo Weaver führten. Danach konzentrierte sich Jones auf Xin Zhu persönlich. Die rein äußerliche Beschreibung begann mit dem unangenehmen Wort fett und wurde dann detaillierter: kleine Augen, Knollennase, volle Lippen, oben dünnes Haar und dichtere schwarze Locken über den Ohren. Seine stille Art, als wollte er mit seinem Schweigen jede Unentschlossenheit aus dem Gegenüber heraussaugen. »Ist er ganz überzeugend«, erklärte Andrei. »Wie ein Fels. Hart … nein, fest. «
    Andrei war sich sicher, dass das Treffen mit ihm vorherbestimmt gewesen war. Er selbst hatte nicht danach gestrebt, es sich nicht einmal gewünscht. Bevor Rick in sein Leben trat, war er verbittert gewesen, voller Hass auf all seine Fahrgäste und alle Gesichter, die ihm auf der Straße begegneten. Erst Rick bot ihm völlig unerwartet eine Art Erlösung.
    »Glaubt er an Ordnung.«
    »Tut mir leid, das verstehe ich nicht.«
    »Hat er gesagt, glaube ich an Ordnung der Dinge .«
    »Er glaubt an die Ordnung der Dinge?«
    »Ja, exakt.«
    »Wann hat er das gesagt?«
    »Wie ich frage, ob er ist religiös.«
    Da er von Andrei Stanescus orthodoxem Glauben wusste, hatte Xin Zhu im Zuge seiner Argumentation aus der Bibel zitiert. Erika wusste aus Erfahrung, dass man so gut wie alles mit irgendeiner Stelle aus der Bibel rechtfertigen konnte. Zhu hatte sich allerdings keine große Mühe gegeben und sich auf einen alten Standardspruch beschränkt: Kommt aber ein Schaden daraus, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.
    »Ist er religiös?«
    »Hat er nicht gesagt.«
    »Und was meinen Sie?«
    Andrei starrte Leticia Jones mit intensivem Ausdruck an, dann berührte er die vor ihm stehende Wasserflasche, ohne zu trinken. »Vielleicht.« Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.
    Leticia Jones erwähnte nicht, dass der Mann, auf den er geschossen hatte, nicht der Mörder seiner Tochter war. Das gehörte nicht zu ihrem Auftrag, der – soweit Erika das erkennen konnte – allein darin bestand, von Leuten, die Xin Zhu persönlich begegnet waren, so viel wie nur möglich über diesen Menschen zu erfahren. Erika konnte daraus schließen, dass die CIA beschämend wenig über den Mann wusste und geradezu verzweifelt nach neuen Erkenntnissen suchte.
    Die entscheidende Frage hob sich Leticia Jones für den zweiten Tag auf, doch sie sprach sie in genau dem Ton aus, den sie schon während der gesamten Vernehmung verwendet hatte: ruhig, herzlich, fast verführerisch.
    »Warum hat er es wohl getan?« Pause. Ein sanftes Lächeln. »Was glauben Sie, warum er Ihnen – einem ihm Unbekannten – geholfen hat, sich für den Mord an Ihrer Tochter zu rächen?«
    Andrei musste nicht lange nachdenken; diese Frage war ihm seit dem 28. März nicht mehr aus dem Kopf gegangen, dem Tag, an dem er den massigen Chinesen am Flughafen abgeholt und – manchmal ungehalten, manchmal gebannt – seiner Erzählung gelauscht hatte. »Rick, sein Sohn wurde
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