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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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Besonderes, weder in unserem Leben noch in unserem Tod; wir waren Mittelmaß. Trotzdem bilde ich mir ein, dass ich damals zu einer Spur von Mitgefühl fähig gewesen wäre, dass ich die Hyazinthen bemerkt hätte, wenn mein Blick über sie hinweggeglitten wäre.
    Der Anblick Maliks, der zerschmettert und gekrümmt unten vor dem Haus lag, schockierte mich nicht. Murph gab mir eine Zigarette, und wir setzten uns wieder vor die Mauer. Doch die Erinnerungen, die Maliks Worte in mir geweckt hatten, zum Beispiel an den Tee, den man uns in kleinen, gesprungenen Tassen gereicht hatte, ließen mich nicht mehr los. Sie schienen uralt zu sein, waren im Staub vergraben, warteten darauf, von einem Pinsel freigelegt zu werden. Ich erinnerte mich daran, dass die Frau errötend gelächelt hatte, dass sie ihre Schönheit nicht hatte verbergen können, trotz ihres Alters, ihres Bauches, vieler brauner Zähne und einer Haut, die aussah wie trockener, rissiger Lehm im Sommer.

    Ein Feld voller Hyazinthen – vielleicht war es ja so.
    Doch so war es nicht, als wir das Haus stürmten, und so war es nicht während der vier Tage nach Maliks Tod. Das grüne, im lauen Wind schwankende Gras war von Sommersonne und Feuern verbrannt worden. Die Stimmen der Menschen, die sich in ihren langen, weißen Gewändern auf dem Markt versammelt hatten, waren verstummt. Manche von ihnen lagen tot auf den Höfen der Stadt oder im Gewirr der Gassen. Alle anderen, Frauen und Männer, Alte und Junge, Gesunde und Verwundete, waren in langsamen Karawanen unterwegs, auf Reittieren, in weißen oder orangefarbenen Schrottautos, auf Maultierkarren oder zu Fuß in kleinen, eng zusammengedrängten Gruppen. Das ganze Leben Al Tafars zog als triste Prozession aus der Stadt. Sie kamen an unseren Toren, Betonsperren und Geschützstellungen vorbei, zogen in die septemberdürren Hügel. Während der Stunden, in denen die Ausgangssperre galt, hielten sie den Blick gesenkt. Sie bildeten im Dunkeln eine buntscheckige Kette, und sie verschwanden.
    In den Räumen unter uns knisterte ein Funkgerät. Der Lieutenant erstattete dem Befehlsstand einen Lagebericht. »Ja, Sir«, sagte er. »Roger, Sir.« Dieser Bericht wurde nach oben durchgereicht, entfernte sich immer weiter von uns, bis man am Ende einer Person, die in einem warmen, trockenen und sicheren Raum saß, zur Kenntnis brachte, dass achtzehn Soldaten während der Nacht die Gassen und Straßen von Al Tafar beobachtet hatten, dass soundso viele tote Gegner auf einem staubigen Feld lagen.
    Der Tag brach über der Stadt und den Höhenzügen der Wüste an, als das Knistern des Funkgeräts endlich verstummte. Wir hörten, wie der Lieutenant zum Dach hinaufstieg. Schemen nahmen Gestalt an, und die Stadt, nachts ein Gegenstand vager Mutmaßungen, verwandelte sich in ein klar umrissenes, konkretes Gebilde. Ich blickte nach Westen. Braun- und Grüntöne schälten sich aus der Dämmerung. Die grauen Lehmziegelmauern, Gebäude und umwallten Höfe, arrangiert wie sechseckige Honigwaben, schienen mit zunehmender Helligkeit immer weiter zurückzuweichen. Auf der etwas weiter südlich gelegenen Obstwiese mit den dünnen, in geraden Reihen gepflanzten und kaum mehr als mannshohen Bäumen brannten Feuer. Ihr Rauch erhob sich über den zerzausten Baldachin aus Blättern, ergab sich dem durch das Tal wehenden Wind.
    Der Lieutenant ging auf dem Dach in die Hocke, huschte zur Mauer. Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen und winkte uns zu sich.
    »Aufgepasst, Jungs. Die Sache sieht so aus.«
    Murph und ich lehnten uns aneinander, bis wir eine Balance gefunden hatten. Sterling kroch näher zum Lieutenant und ließ einen festen, beinahe verbissenen Blick über uns hinweggleiten. Ich behielt den Lieutenant im Auge. Er hatte trübe Augen, und bevor er fortfuhr, seufzte er kurz auf und rieb sich mit zwei Fingern den himbeerroten Hautausschlag, der sich als Oval von der strengen Linie der Augenbraue bis zur Wange zog und von dort dem Schwung der Augenhöhle folgte.
    Der Lieutenant war von Natur aus reserviert. Ich weiß nicht einmal mehr, woher er stammte. Er strahlte eine Zurückhaltung aus, bei der es sich nicht nur um die gebotene Distanz zu den Untergebenen handelte. Er hatte nichts Elitäres. Er wirkte undurchschaubar, vielleicht etwas haltlos. Er seufzte oft. »Wir sind ungefähr bis Mittag hier«, sagte er. »Der dritte Zug wird sie durch die Gassen nordwestlich von hier in unsere Arme treiben. Ich hoffe, sie haben zu viel Schiss, um uns groß
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