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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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Unsere Aufmerksamkeit gilt meist dem, was selten ist, und der Tod war keine Seltenheit. Eine Seltenheit war das Geschoss mit deinem Namen darauf, war die extra für dich vergrabene Sprengfalle. Darauf achteten wir.
    Danach vergaß ich Malik. Er hatte als Mensch nur so lange existiert, wie er in meinem Leben eine Rolle gespielt hatte; unsere Zusammenarbeit war reiner Zufall gewesen. Ich hätte es damals nicht in Worte fassen können, aber man hatte mich darauf gedrillt, den Krieg als großen Vereiner zu sehen, der die Menschen enger zusammenschweißt als jedes andere Ereignis auf Erden – vollkommener Unsinn, denn der Krieg bringt unzählige Solipsisten hervor: Wie wirst du heute mein Leben retten? Zum Beispiel durch deinen Tod, denn wenn du stirbst, wird mein Überleben etwas wahrscheinlicher. Das Geheimnis besteht darin, sich für ein Nichts zu halten: für eine Uniform in einem Meer von Zahlen, für eine Zahl in einem Meer aus Staub. Wir glaubten, dass diese Zahlen für unsere Bedeutungslosigkeit standen. Wir bildeten uns ein, der Tod würde uns verschonen, weil wir stinknormale Menschen waren. Wir sahen einen Zusammenhang, wo keiner war, maßen den Porträts der Toten eine besondere Bedeutung bei, jedes neben der Zahl, die den jeweiligen Platz auf der immer länger werdenden Liste der Gefallenen markierte, jener Liste, die in der Zeitung stand und uns vorgaukeln sollte, dass der Krieg in geordneten Bahnen verlaufe. Wir hatten das Gefühl – eines, das zwischen zwei Synapsen aufblitzte –, dass diese Namen lange vor der Ankunft der betreffenden Soldaten im Irak auf der Liste gestanden, gleich nach der Aufnahme der Porträts mitsamt der Zahl ihren Platz darauf gefunden hatten; dass diese Soldaten von jenem Moment an tot gewesen waren. Beim Lesen des Namens von Sergeant Ezekiel Vasquez, einundzwanzig, Laredo, Texas, Nr. 748 , in Baqubah, Irak, gefallen im Beschuss leichter Waffen, waren wir überzeugt, dass er seit Jahren als Geist durch den Süden von Texas geirrt war. Wir glaubten, dass er bereits auf dem Flug hierher tot gewesen, dass seine Angst beim Rütteln und Absacken der C- 141 während des Landeanflugs auf Bagdad überflüssig gewesen war, dass er nichts zu befürchten gehabt hatte. Er war unbesiegbar gewesen, jedenfalls bis zu dem Tag, an dem es ihn doch erwischt hatte. Das galt auch für Specialist Miriam Johnson, neunzehn, Trenton, New Jersey, Nr. 914 , gestorben im Landstuhl Regional Medical Center an Verwundungen durch einen Mörserangriff. Wir waren froh. Nicht, weil sie gefallen war, sondern weil wir lebten. Wir hofften, dass sie glücklich gewesen war und ihren Sonderstatus genutzt hatte, bevor sie, während sie die Wäsche auf der Leine hinter ihrer Unterkunft aufhängte, durch die schicksalhafte Explosion einer Mörsergranate umkam.
    Wir täuschten uns natürlich. Unser größter Irrtum bestand in dem Glauben, dass unsere Gedanken etwas bewirkten. Heute kommt es mir absurd vor, dass wir jeden Tod als Bestätigung dafür ansahen, dass wir überleben würden. Ebenso absurd war unser Glaube, dass jeder an einem für ihn bestimmten Zeitpunkt gefallen war und dass wir deshalb noch nicht an der Reihe waren. Wir ahnten nicht, dass die Liste unbegrenzt war. Wir dachten nicht über die Zahl Tausend hinaus. Wir kamen nie auf den Gedanken, dass auch wir zu den lebenden Toten gehörten. Damals war ich der Meinung, dass dieser von uns konstruierte Zusammenhang nicht nur über Leben und Tod, sondern auch über mein Handeln entschied, bildete mir ein, dass jede Entscheidung, die ich im Einklang mit diesem Glauben unterließ oder traf, Einfluss darauf hatte, ob ich weiterlebte oder auf der Liste der Gefallenen landete.

    Heute weiß ich, dass das Unsinn ist. Es gab weder Kugeln mit meinem noch solche mit Murphs Namen darauf. Es gab keine nur für uns bestimmten Bomben. Wir wären von jeder beliebigen Bombe genauso getötet worden wie die auf der Liste verzeichneten Gefallenen. Ort und Zeitpunkt des Todes waren nicht vorherbestimmt. Ich staune inzwischen nicht mehr über die zwei oder drei Zentimeter an meinem Kopf vorbeisausenden Kugeln oder über die Tatsache, dass wir, wären wir etwas schneller gefahren, eine Sprengfalle zur Explosion gebracht hätten. Das geschah nicht. Ich starb nicht. Murph schon. Und obwohl ich nicht dabei war, als er den Tod fand, glaube ich fest daran, dass die dreckigen Messer, mit denen man ihn niedermetzelte, die Aufschrift trugen: »Für wen auch immer.« Wir waren nichts
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