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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin
Autoren: Tanja Kinkel
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Arnth endlich wieder sprach, war sie mehr als bereit, ihm zuzuhören.

    Ilian war es verboten worden, den Tempelbezirk zu verlassen, doch Fasti hatte vergessen, eine solche Anordnung auch für den Rest der Novizinnen zu erlassen, die mit Ilian im Haus der Jungfrauen lebten. Sie mochten ihr Leben Turan geweiht haben, doch sie waren so klatschsüchtig wie alle jungen Mädchen geblieben, und alle hatten Familie in der Stadt. Überdies hatte sich vor zwei Mondwechseln eine der Novizinnen durch einen unglücklichen Sturz das Genick gebrochen, was Fasti zu einer noch nicht wieder zurückgenommenen ständigen Besuchserlaubnis für die Eltern veranlaßt hatte, um die aufgeregten Familien der übrigen Mädchen zu beschwichtigen. Nun zeigten sich die unliebsamen Folgen dieser Geste. Als Fasti aus dem Palast zurückkehrte, wurde sie dreimal angehalten und gefragt, was es mit der ungeheuerlichen Neuigkeit auf sich habe. Ihre Stimmung war dementsprechend, als sie Ilian aufsuchte.
    Ilian saß auf einer Bank, ein Wachstäfelchen auf den Knien. In der linken Hand hielt sie den Griffel, mit dem sie schrieb. Einen Moment lang wollte Fasti sie wie so oft darauf aufmerksam machen, daß sie mit der rechten Hand zu schreiben hätte. Die Schrift war erst vor einer Generation von den Griechen ins Land gebracht worden und noch immer etwas so Außergewöhnliches, daß nur die Priester und sehr wenige Adlige sie beherrschten. Ilian hatte das Schreiben schnell gelernt, doch ihr beharrliches Benützen der falschen Hand war so widersinnig wie vieles andere an ihr. Ohne ein Wort zu sagen, nahm Fasti ihr das Täfelchen ab und warf einen Blick darauf. Es handelte sich um eine Aufzählung der elf verschiedenen Blitzarten und der Götter, denen sie zugeordnet waren. Offensichtlich hielt Ilian es für nötig, sich mit anderen Dingen als dem, was sie angerichtet hatte, zu beschäftigen.
    » Blutrote Blitze für Tin «, las Fasti laut, » in drei Arten . Ich hoffe, du weißt auch noch, welche drei Arten.«
    Ilian schaute zu ihr auf. Diesmal bemerkte Fasti die Schatten unter ihren Augen, doch sie weigerte sich, sich davon rühren zu lassen.
    »Die erste Art ist friedlich«, gab das Mädchen zurück, ohne Überraschung, als handele es sich immer noch um eine weitere Lektion ihrer Lehrerin, als könnten sie wieder sein, was sie noch gestern gewesen waren. »Ein solcher Blitz rät von etwas ab oder rät zu etwas zu. Die zweite Art Blitz kann Schaden anrichten oder nützen und ist sehr schwer zu deuten; Tin zieht die übrigen Götter zu Rate, ehe er sie verwendet. Um die dritte Art zu benutzen, braucht er ihr Einverständnis, denn es ist die schlimmste, verheerendste. Sie vernichtet und gestaltet den Zustand von Mensch und Gemeinwesen um.«
    »Zwei Tage, ehe der alte König, dein Vater, gestürzt wurde«, sagte Fasti, während alles in ihr gegen die Verschwendung protestierte, die jetzt unausweichlich war, »sahen du und ich einen solchen Blitz. Ich habe ihn gedeutet. Ich nehme an, du willst mir jetzt erzählen, daß meine Deutung nicht die richtige war und sich die Götter vielmehr dir offenbarten?«
    »Deine Deutung«, begann Ilian vorsichtig, »war nicht vollständig.« Man konnte die erwachende Hoffnung in ihrer Stimme hören. Vermutlich nahm sie an, daß Fasti über ihre Worte am Morgen nachgedacht hatte und nun eher bereit war, ihr zu glauben. »Ich wünschte, sie wäre es gewesen, Fasti«, fuhr sie fort und biß sich auf die Lippen, eine kindliche Geste, die Fasti ihr nie hatte abgewöhnen können. »Ich bin nicht blind, ich weiß, was auf uns zukommt. Aber es war notwendig. Die Götter haben es mir offenbart.«
    »Nun«, sagte Fasti langsam und ließ die Falle zuschnappen, »wenn du dir deiner Sache so sicher bist, dann wirst du wohl nichts dagegen haben, wenn ich dich auf die Probe stelle. Der König läßt dir die Wahl zwischen zwei Lösungen. Der Vater deines Kindes hat sich gefunden, oder vielmehr: Der König hat ihn gefunden. Es ist einer der latinischen Barbaren in seinen Diensten.«
    Ilians Gesicht verhärtete sich wieder. »Das ist nicht wahr, und du weißt es, und er weiß es auch.«
    Ohne auf den Einwurf einzugehen, fuhr Fasti fort: »Da keine unserer Adligen einen solchen Mann heiraten kann, verlierst du deinen Stand und deinen Namen, was im übrigen auch eine angemessene Strafe für deinen Verrat an der Göttin ist. Aber du wirst ihm zur Frau gegeben und mit ihm in seine Heimat zurückkehren. Dein Kind wird ehelich zur Welt kommen, und ihr
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