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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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Bühne verlassend, die Bühne als Hinterbühne betrat und weiteragierte, während auf der anderen Seite des Vorhanges eine Ansage und ein Auftrittsapplaus erklangen, eine Showmusik losging und plötzlich über den oberen Rand des Vorhanges durch kreisende Lichter Ringe und Keulen zu fliegen begannen. Wurde die Probe vorne unterbrochen, weil dieses oder jenes zu ändern oder zu besprechen war, hörten die Ringe und Keulen zu fliegen auf. Ging die Probe weiter, flogen plötzlich wieder Keulen und Ringe. Da stand ein alter Mann hinter dem Vorhang, lauschte und begann, wenn er – ohne sich zu irren – der Ansicht war, vorne ging es weiter, zu jonglieren.
    Irgendwann einmal wurde mir das zu viel. Ich ging auf die Bühne hinter den Vorhang und sagte: »Wir haben es jetzt alle gesehen, es kommt wunderbar, Sie machen das ganz präzise, und es sieht toll aus, aber Sie müssen es nicht ununterbrochen machen, während der Probe, Sie können auch pausieren.«
    »Aber wieso denn?«, fragte der Jongleur. »Ich trainiere ja auch zu Hause. Bevor ich hier untätig rumstehe, jongliere ich doch lieber.«
    Der Mann war kein Problem und deshalb kein Thema mehr. Über alles wurde bis zur Premiere noch gestritten, über jeden Lichtwechsel, jeden Auftritt, jeden Musikeinstieg. Nur die tanzenden Ringe und Keulen standen außer Diskussion.
    Es kam der Premierenabend. Alles, was mit der Produktion zu tun hatte, versammelte sich nach und nach auf der Hinterbühne, um das Ritual des Über-die-Schulter-Spuckens zu vollführen. Da sah ich einen Mann, der zwar der war, der er war, aber eben doch nicht. Er trug einen roten glitzernden Smoking, ein Hemd mit Spitzen an den Manschetten, schwarze Lackschuhe, eine gescheitelte Perücke und war auf das Sorgfältigste geschminkt. Zunächst dachte ich, ich spinne, es konnte doch nicht irgendetwas umarrangiert worden sein, in letzter Sekunde, nein, nein, es war völlig ausgeschlossen, dass der Jongleur körperlich zu sehen war. Ich wollte den Mann schon fragen, was er sich dabei gedacht hatte, sich in Kostüm und Maske zu präsentieren, aber dann hatte ich doch das Gefühl, ich könnte ihn mit dieser Frage an seine Unsichtbarkeit, an die Lächerlichkeit seines Jobs erinnern. Daher sagte ich nur: »Ein toller Smoking!« Er lächelte. Das Lächeln drückte aus: Wissen Sie, wenn man so lange dabei ist, dann weiß man, was einem steht.
    Die Show war ein grandioser Erfolg. Besonders das Nachspiel auf der Hinterbühne mit der magischen Wirkung einer weiterlaufenden Vorstellung auf der anderen Seite des Vorhanges. Die Ringe und die Keulen tanzten, und keiner konnte sich fragen: wieso? – Es musste so sein.
    Als nach der Vorstellung die allgemeine Gratulationscour stattfand, fühlte ich mich verpflichtet, den abseits stehenden Jongleur, auf dessen Gesicht der Schweiß die Schminke etwas derangiert hatte, einzubeziehen.
    »War Spitze«, sagte ich, »gratuliere!«, und dann ritt mich doch der Teufel. »Sie machen Kostüm und Maske wohl nur für die Premiere –«
    Er unterbrach mich sanft, aber bestimmt.
    »Aber mein Herr, Vorstellung ist Vorstellung. Ich kann nicht jonglieren, wenn ich nicht mein Kostüm habe, mir würde alles herunterfallen.«
    »Ich verstehe«, sagte ich.
    Das war damals noch gelogen.
    Heute weiß ich, dass die Burschen, die über einen braunen Slip oder eine rot-grün karierte Boxerhose den schwarzen Smoking anziehen, von der Kunst nicht annähernd so viel wissen wie dieser
Zampolino
oder
Flattolatti
oder so ähnlich.
    Nicht annähernd.

Das Gefährliche an der Kunst
    Nichts macht so Spaß, als in einem glücklichen Theater zu gastieren. Davon gibt’s ja nicht viele.
    Ich werde nie vergessen, wie der
Prinzipal
schon in der Hotelhalle auf uns wartete, wie er dann – nachdem wir die Zimmer bezogen hatten – mit uns ins Theater ging, um es uns zu zeigen. Dort hing die
Prinzipalin
gerade am Telefon und stellte – uns strahlend zuwinkend – einem Anrufer Notstühle in Aussicht. Das war der Tag, an dem ich für die beiden die Spitznamen Prinzipal und Prinzipalin erfand. Denn sie waren für mich das Gegenteil von Theaterleitern, sie vom Typ her ein Model, er ein Extrembergsteiger. Hätte man sie gesehen und auf eine künstlerische Betätigung tippen müssen, hätte ich bei ihr Tänzerin und bei ihm Bildhauer gesagt.
    Die beiden wehrten sich lange gegen die Spitznamen, aber ich blieb konsequent, bis sie sich – im Umgang mit mir – erheitert fügten. Welch ein Vergnügen, künstlerische
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