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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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zurück. Daran war der Anblick nicht unbeteiligt, den sie sich im Spiegel bot, als sie aus der kalten Dusche kam und ihr braunes Haar zu bürsten begann. Sie sah an sich hinab, als ob ihr dieser Körper nicht bekannt sei, dachte, das wirst du nie sehen, du Arsch!, und begann sich – zum ersten Mal seit der Trennung – wie verrückt nach ihrem Freund zu sehnen.
    Im Theater empfing sie der Intendant mit dem richtigen Ton.
    »Damit müssen wir leben, ich weiß, das sagt sich leicht, wenn man ausnahmsweise nicht selbst betroffen ist, aber ich hab’s auch lernen müssen.« Und er lenkte das Gespräch sofort auf die kommenden Projekte.
    Sie hatte sich über den geplanten Mozart schon Gedanken gemacht, konnte sie auch gut und mit überzeugendem Feuer erläutern, brach nur einmal in ihrer Interpretation ab und starrte auf die eben hingeworfene Skizze.
    »Was haben Sie denn?«, fragte der Intendant.
    »Ich habe mich gefragt, ob der Herr das nicht auch geschmacklos findet«, sagte sie.
    »Spielen Sie nicht verrückt.«
    Als ein nachmittägiges Telefonat ergab, der Freund würde über Samstag und Sonntag zu Besuch kommen und am Sonntag – da war
Carmen
angesetzt – unbedingt die Vorstellung, vor allem aber ihre Bühnenbilder, sehen wollen, war die Katastrophe fürs Erste überwunden. Das Leben konnte, wenngleich nicht ganz so wie bisher, weitergehen.
    »Wollen Sie wissen, wie dieser Mann aussieht, der Sie so liebt?«, fragte im Vorbeigehen ein altgedienter Meister im Malersaal die schöne Bühnenbildnerin.
    »Der Typ ist heute spätabends im Fernsehen.«
    Ja, sie wollte ihn sehen, und wie sie ihn sehen wollte, und sie wollte ihm auch gut zuhören, wenn er eine Kulturdiskussion unter dem Titel
Wesen und Chancen des Operntheaters außerhalb der Weltmetropolen
leitete. Konzentriert saß sie, einmal mit der linken und einmal mit der rechten Hand nach der Tasse mit Malventee fassend, vor ihrem kleinen Fernsehapparat und wartete gierig auf den ersten Schnitt auf den Leiter der Diskussion.
    Da saß er nun, der Mann, der
es gewagt
hatte. Da saß er nun und sprach, stellte die Diskussionsteilnehmer vor, erhoffte sich
Anregendes
und
Kontroverses
.
    Zunächst nahm die Bühnenbildnerin an dem Mann nur wahr, dass er sich beobachtet fühlte, von einer Kamera beobachtet, und nicht die Souveränität hatte, sich einfach beobachten zu lassen, sondern bei jedem Wort, das er sagte, bei jeder Kopfdrehung, die er für angebracht hielt, sich fragte: Wie komme ich?
    Zufrieden schlug die Bühnenbildnerin ihre langen Beine übereinander. Er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut, dachte sie, wie beruhigend. Dann untersuchte sie sein Outfit, und da stockte ihr der Atem. Der Kritiker, in dessen Besprechung ihrer Arbeit die Worte
Geschmack
und
Ästhetik
nicht zu knapp vorgekommen waren, hatte ein Hemd an, das ihm jede stellvertretende Gewandmeisterin der
hinterletzten Provinzklitsche
vom Leib gerissen hätte. Ein Hemd, das bei breitschultrigen, blond gefärbten, Goldkettchen tragenden Zuhältern zum Kostüm gehört, an dem eher kleinen, leicht fetten und angeklatscht frisierten, nervös auf seinem Sitz wetzenden Intellektuellen aber grotesk war, in seiner Geschmacklosigkeit nicht mehr einzuordnen: ein glitzerndes Seidenhemd mit ineinanderrinnenden Farben, in denen Violett und Gelb dominierten, dazu trug der Mann einen braven, nach Buchhaltung riechenden graubraunen Trevira-Anzug. Der Höhepunkt seiner Selbstverstümmelung aber waren die Socken, die er zu Schuhen aus Plastik trug. Socken, deren Karo und deren Farben den aufstrebenden, dynamischen jungen Managertyp zu symbolisieren hatten. Socken, bei deren Anblick schon im Glanzpapierinserat die Bühnenbildnerin ein ästhetisches Ekelgefühl verspürte, Socken, die an den schwarz behaarten Beinen des Kritikers in Trevira-Anzug und superpoppigem Hemd für sie aber den Stellenwert geschmacklicher Apokalypse hatten.
    Ihr Blick fraß sich an den Socken des Kritikers fest, sie hörte keine Sekunde mehr zu, was geredet wurde, sie sagte sich in Gedanken nur immer wieder Passagen seines Verrisses ihrer Arbeit auf und verglich diese Feststellungen mit dem Anblick der Socken.
    Sie hatte gesiegt. Sie fühlte sich befreit. Sie hatte in allem und jedem vor den Göttern der Schönheit recht.
Ihr
Geschmack war es, der sich vor dem Olymp nicht zu verstecken hatte. Und schon überhaupt nicht vor einem Mann mit diesen Socken.
    Sie begann zu zeichnen. Sie zeichnete Figurinen, leicht dickliche Männer mit
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