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Die Silberdistel (German Edition)

Die Silberdistel (German Edition)

Titel: Die Silberdistel (German Edition)
Autoren: Petra Durst-Benning
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Salme, 90 Tonnen Heringe, dazu noch Unmengen Aale und Karpfen zubereitet werden konnten. Knechte und Mägde aus der herzoglichen Hofküche zu Stuttgart erzählten später von sage und schreibe 136 Ochsen und mehr als 1800 Kälbern, die von der Hochzeitsgesellschaft verspeist worden waren. Sicher, auch die Stuttgarter Bürger hatten an diesem freudigen Ereignis teilgehabt, denn während der ganzen Zeit war aus den acht Röhren des Stuttgarter Marktbrunnens statt Wasser Wein geflossen. Man stelle sich das einmal vor: ein ganzer Brunnen, aus dem Wein fließt! Auf dem Lande dagegen war nur eines geflossen, dafür aber bächeweise: Tränen, vergossen für die Schwächsten der Schwachen, die Ärmsten der Armen, die als erste der winterlichen Hungersnot zum Opfer gefallen waren. Kinder, Frauen, alte Menschen – es hatte kaum ein Dorf gegeben, das nicht vom Hunger und Elend gekennzeichnet worden war. Dabei hatte das Leid viele Gesichter gehabt: Mütter, die ihren Kindern ein Stück Birkenrinde zwischen die Zähne schoben, um deren Hungergeschrei zu stillen, Männer im besten Alter, die der Hunger an manchen Tagen so schwächte, daß sie die Arbeit auf dem Feld nicht mehr verrichten konnten, Frauen, die ihr Neugeborenes lieber himmelten, als es aufwachsen zu sehen, weil ein kleiner Engel im Himmel nicht nach Milch schreit, obwohl es keine gibt.
    Überall hatte die Fratze des Todes gelauert.
    Die beiden Männer schwiegen. Jerg mußte an Marga, sein junges Weib, denken. ›Dem Herrgott sei gedankt, daß es keinen von uns erwischt hat …‹ Mit einem Seitenblick streifte er Stefan, der ebenfalls tief in Gedanken versunken schien. Der arme Kerl war keine zwei Jahre verheiratet gewesen, als sein Weib den schwarzen Tod starb. Und gleich danach, während der Erntezeit seine Eltern. Bisher waren die Braunsvom Schlimmsten verschont geblieben… Aber wenn ihnen dieses Jahr keine bessere Ernte beschert war, dann konnte auch der Allmächtige nicht mehr helfen!
    In der Zwischenzeit waren sie in Sichtweite des kleinen Dörfchens gekommen, in dem Jerg mit Marga auf dem Hof seines älteren Bruders Cornelius zusammen mit dessen Frau Lene und deren drei Kindern wohnte. Das Mondlicht zeichnete von jedem Häuserdach eine scharfumrissene Linie gegen den Horizont, und der weiße Frost umgab das ganze Dorf mit einem gnädigen, silbernen Schein, unter dem die zerfallenen Hütten, die löchrigen Dächer, die fensterlosen Verschläge wie aus einer anderen, einer schöneren Welt zu stammen schienen. Beim Anblick der heimatlichen Vertrautheit wurden Jergs Schritte unwillkürlich schneller. Nun hatte er es eilig, Stefan loszuwerden. Dieser marschierte in Richtung Dorfschenke, während Jerg, wie von einer inneren Kraft gesteuert, zielstrebig auf eines der kleinen Häuser zulief, das am oberen Ortsrand von Taben lag. Jerg war noch immer innerlich aufgewühlt. Es lag nicht in seinem Wesen, sich mit stundenlangen Gedankenspielen zu beschäftigen, einzelne Gedanken immer wieder hin und her zu schütteln, wie es ein Spieler mit seinen Würfeln zu tun pflegt, und mit Spannung darauf zu warten, was wohl herauskommen mochte. Ihm war durch das viele Grübeln ganz schwindlig geworden.
    Mittlerweile war er bei dem kleinen Haus angelangt, welches, aus der Nähe betrachtet, einen erbärmlichen Eindruck machte: Statt Fensterscheiben waren alte Lumpen, Stroh, Holz und vieles mehr in die Öffnungen gestopft, die Tür war schon unzählige Male geflickt worden, so daß mittlerweile kein Brett mehr dem anderen glich, und neben dem Haus befand sich ein Haufen mit Unrat, Müll und Kot von Menschen und Tieren, von dem selbst in dieser klirrend kalten Märznacht ein übler Geruch ausging. Was dem aufmerksamen Beobachter jedoch am meisten ins Auge fallen oder besser gesagt in die Nase steigen mußte, war der beißendeGeruch eines offenen Feuers, das im Haus brannte. Denn in ganz Taben gab es kaum mehr einen Haushalt, der es sich leisten konnte, sich durch ein wärmendes Feuer gegen die Kälte zu schützen, geschweige denn, die Feuerstelle die ganze Nacht hindurch zu schüren! Was an kärglichen Brennvorräten vorhanden gewesen war, war während der letzten Wintermonate verheizt worden. Für die meisten hieß es: durchhalten und auf das Frühjahr mit seinen wärmeren Temperaturen hoffen.
    Doch Jergs Bedarf an scharfsinnigen Beobachtungen war für diese Nacht gestillt. Mit einem fahrigen Handgriff kämmte er sich die feuchten, eisigen Stirnlocken aus dem Gesicht. Gleichzeitig
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